Max Planck war ein ausgezeichneter Pianist und Sänger. Dennoch beschloss er, Physik zu studieren. Eine Anekdote erzählt, er habe seinen Münchner Professor, Philipp von Jolly, nach den Aussichten des Fachs gefragt und zur Antwort erhalten, fast alles sei schon erforscht und es blieben nur noch einige unbedeutende Lücken zu schließen. Jolly war nicht der einzige, der 1874 diese Ansicht vertrat. Im Jahr 1900 schuf Planck dann mit seiner Arbeit zur Schwarzkörperstrahlung die Grundlagen der Quantenphysik. Ich glaube nicht, dass seither noch jemand annimmt, man werde eines Tages mit der Physik zu Ende kommen.
Dass die Naturwissenschaft notwendig ein offener - und in seinen Einzelheiten unvorhersagbarer - Prozess ist, erläuterte Karl Popper 1934 in seinem Buch "Logik der Forschung", das bis heute eines der wichtigsten Werke zur erfahrungswissenschaftlichen Methodik ist.
Eine naturwissenschaftliche Theorie hat die Form einer Allaussage: "Alle Schwäne sind weiß". Daraus folgen Einzelaussagen: "Dieser Schwan ist weiß". Solche Einzelaussagen (Hypothesen) sind durch Erfahrung - also empirisch - prüfbar. Ich schaue diesen Schwan an: er ist weiß. Auf diese Weise kann ich aber die zugrundeliegende Theorie, dass alle Schwäne weiß sind, nicht prüfen, denn dazu müsste ich tatsächlich alle Schwäne anschauen, was nicht gut möglich ist. Um die Theorie hingegen zu widerlegen, genügt es, einen einzigen nicht-weißen Schwan zu finden. Diese Asymmetrie zwischen der Bestätigung und der Verwerfung einer Theorie bringt uns in die Lage, dass wir eine Theorie grundsätzlich nicht beweisen, sondern nur widerlegen können. Wenn wir keinen nicht-weißen Schwan finden, können wir also nur sagen, die Theorie habe sich - wie Popper es ausdrückt - "bewährt", aber wir können redlicherweise nie sagen "die Untersuchung hat bewiesen…" oder "so ist es ein für alle mal" oder "so muss es sein". Stattdessen prüfen, wir, ob sich die Theorie bewährt, indem wir versuchen, falsifizierende Evidenz zu finden, also Beobachtungen zu machen, die ihr widersprechen.
Das hat unter anderem zur Folge, dass wir keine endgültigen Ziele der Wissenschaft festlegen können, denn wir wissen nicht im Voraus, was für Theorien wir uns ausdenken und was wir beobachten werden. Wir haben Ziele, die wir uns vorstellen und erreichen können, z.B.: ich werde jetzt dieses Experiment machen. Dann solche, die wir uns vorstellen aber (wahrscheinlich) nicht erreichen können: die "Theory of Everything". Und schließlich solche, die wir uns gegenwärtig nicht vorstellen können (so wie sich vor hundert Jahren niemand ein Smartphone oder das Internet vorstellen konnte), die also keine eigentlichen Ziele sind, wir sie aber eines Tages erreichen werden, wenn wir uns diesem offenen Prozess fügen und uns damit abfinden, nicht zu wissen, niemals eine letzte Sicherheit zu haben, immer wieder zweifeln zu müssen und trotzdem die Anstrengung der Forschung immer neu auf uns zu nehmen.
In einem, wie ich finde, eng damit zusammenhängenden Werk beschrieb Popper die "Offene Gesellschaft und ihre Feinde" (The Open Society And Its Enemies, 1945). Darin postuliert er auch für eine demokratische Gesellschaft und Politik die grundsätzliche Offenheit des Prozesses. Eine Demokratie macht es möglich, Regierungen ohne Blutvergießen auszutauschen, aber sie trägt damit stets auch den Keim ihres legitimen Untergangs in sich, indem sie demokratisch, also durch freie Wahlen, in eine geschlossene Gesellschaftsform, etwa eine Diktatur, verwandelt werden kann. Die Geschlossenheit ist hauptsächlich durch Theorien vermittelt, die einen Idealzustand und einen obligatorischen Weg dahin sozusagen naturgesetzlich vorschreiben. Der Historische Materialismus beispielsweise gibt bestimmte aufeinanderfolgende Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung bis zum Endzustand der klassenlosen Gesellschaft vor. Auch bestimmte Ideen tun das in der platonischen Staatsidee: wir wissen schon, was das Beste ist.
[…] the attempt to make heaven on earth invariably produces hell. (OS, Vol2. p.224)
Ich glaube nicht, dass wir jemals in einer vollständigen Welterklärung oder einer idealen Gesellschaft ankommen werden. Das ist weniger der Widerspenstigkeit der Welt zu verdanken als vielmehr der Eigenschaft unseres unterscheidenden Bewusstseins, in jeder Suppe ein Haar zu finden. Das Ideale ist also eine Frage des Bewusstseins, nicht der Welt.
Es gibt Ideen, die deshalb "ewig" sind, weil unsere (möglicherweise beschränkten) Denkmöglichkeiten keine anderen zulassen. Dazu gehören besonders die Regeln der Logik und der Mathematik, die unserem wissenschaftlichen Erkenntnisvermögen zugrunde liegen. Aber schon beim Wahren, Guten und Schönen wird es schwierig. Darin, wie in vielem "Ewigen", liegt dann doch oft eine Jeweiligkeit und Vorläufigkeit, der wir uns genau so fügen müssen wie den Möglichkeiten unseres Denkens. Dennoch glaube ich an eine philosophia perennis, zu der aber eben auch genau die Leute gehören, die uns unsere notwendige Beschränkung vor Augen geführt haben.
"Woran arbeiten Sie?" wurde Herr K. gefragt.
Herr K. antwortete: "Ich habe viel Mühe,
ich bereite meinen nächsten Irrtum vor." -Bert Brecht-
"Die Physik irrt sich empor." -Harald Lesch-
"Die Zukunft ist offen, aber nicht beliebig." -Hans-Peter Dürr-