Moderne Psychotherapie
Wenn wir etwas als modern bezeichnen, so sagen wir damit auch, daß es sich rasch ändert. Was heute modern ist, kann schon morgen "veraltet" sein. Damit tragen wir dem Umstand Rechnung, daß es in vielen Lebensbereichen unseres industriell beschleunigten Zeitalters zu einem immer rasanteren Umschlag von Waren, Dientleisungen und Erkenntnissen kommt. Ein 10 Jahre altes Biochemiebuch, ist, was den Wissensumschlag angeht, veraltet, genau so wie ein 10 Jahre altes Kleid oder ein 10 Jahre altes Auto -- denn auch bestimmte Erzeugnisse der Kunst, eben die "Mode" und das "Design", unterliegen dem raschen Wechsel in derselben Weise wie die Technik und Teile der Wissenschaft.
Auch die Psychotherapie ist davon nicht ausgenommen. Verhaltenstherapeutisch sieht eine moderne Psychotherapie etwa folgendermaßen aus:
Die Grundlage bildet das Paradigma der empirischen Sozialforschung. Dort wird beispielsweise die Überlegenheit einer bestimmten therapeutischen Methode durch Gruppenvergleiche untersucht. Und auch das Ziel psychotherapeutischer Tätigkeit kann durch einen solchen Vergleich definiert werden: Psychotherapie ist zweckmäßig und wirtschaftlich, wenn es gelingt, die Heilungsrate um 10% über einen störungsspezifischen Referenzwert (etwa die Spontanheilungsrate) zu heben.
Dementsprechend wird bei der Therapie primär störungsspezifisches Wissen eingesetzt. Für eine Vielzahl von psychotherapeutisch zu behandelnden Krankheiten und Störungen gibt es gut untersuchte Verfahren und Behandlungsprogramme, die laufend auf den neuesten Stand gebracht werden und die dieses störungsspezifische Wissen in Form von Patienten- und Therapeuten-Manualen verfügbar machen.
Auf dieser Basis lässt sich auch die Praxisführung weitgehend durchrationalisieren:
• Bei der Antragstellung können personspezifische Teile der Anamnese kurz gehalten werden; die übrigen Teile können, ähnlich wie die Therapie selbst, durch störungsspezifische Textbausteine dargestellt werden.
• Alle Tätigkeiten, die nicht direkt mit der Durchführung von Diagnose und Behandlung zu tun haben, werden an Praxismitarbeiter delegiert. Desgleichen (in der Zukunft) bestimmte Trainingsmaßnahmen und die Routinediagnostik. Der Therapeut ist dadurch in der Lage, seine Fallzahl zu steigern und sich auf diejenigen Tätigkeiten zu konzentrieren, für die er mehr einnimmt als er an die Hilfskräfte wieder ausbezahlt.
• In einzelnen Fällen therapeutischer Komplikationen ist zu erwägen, ob man nicht im Sinne des Gruppenansatzes eine Therapie in ihrer Zielsetzung einschränkt oder sie gar abbricht bzw. den Patienten weiterverweist, weil man in derselben Therapiezeit vielleicht zwei andere störungsgleiche Fälle mit größerem Erfolg behandeln könnte. Idealerweise wird man versuchen, die Möglichkeit solcher Komplikationen schon im diagnostischen Vorfeld abzuklären.
• Generell gilt der Grundsatz, daß die Person von der Symptomatik her und nicht die Symptomatik von der Person her zu sehen ist.
• So ist nicht nur die effektive Behandlung einer Patientenpopulation, sondern auch die effektive wirtschaftliche Führung der Praxis gewährleistet.
An diesem Modell ist wissenschaftlich und wirtschaftlich nicht das geringste auszusetzen. Trotzdem ist es nicht meines.
Es fehlt nämlich das, was in allen industriellen Verfahren fehlt: die Einzigartigkeit der Person und der Begegnung. Es fehlt die Zeit, die es braucht, um diese Einzigartigkeit zu erleben und wirken zu lassen. Und es fehlt die Auseinandersetzung mit all dem, was mit den Wörtern "modern" und "veraltet" ebenso wenig sinnvoll beschrieben werden kann wie eine Fuge von Bach oder die "Kritik der reinen Vernunft", die Auseinandersetzung nämlich mit dem geisteswissenschaftlichen Zugang, (philosophischer) Tradition, (Kultur-)Geschichte, und - psychotherapeutisch - denjenigen Aspekte der Seele, die sich eben nicht in beliebig kurzer Zeit ändern.
Ein Kind steht zu seinem Teddybär nicht in einer Beziehung des Habens sondern des Seins. Wenn er verloren geht, kann man ihn nicht ohne weiteres ersetzen, auch wenn im Regal des Spielzeugladens noch vier sitzen, die genau "gleich" sind. Aber sie sind es eben nicht. Man kann sie sofort haben, aber nicht sofort mit ihnen sein, wie man es mit dem Verlorenen war. Es ist dem Kind auch völlig egal, ob es inzwischen "modernere" Teddys gibt.
Bei uns heutigen Erwachsenen wird diese wichtige Beziehung mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Man hat kaum noch Zeit, zu Objekten eine Beziehung zu entwickeln, die über das Haben hinausgeht: sie veralten, man ersetzt sie spätestens, wenn sie durch Gebrauch und kleine Beschädigungen einzigartig werden. Kurz: es geht vom Objekt nichts mehr aus, es ergreift uns nicht mehr, sondern nur noch wir ergreifen es. Auch von Personen, die uns nur als Vertreter einer Rolle oder eben als Fälle gegenübertreten, geht nichts mehr aus. Sie sind ersetzbar, Vertreter einer Gruppe, einer statistischen Kenngröße.Bezogen auf meinen psychotherapeutischen Ansatz heißt das nicht, daß nicht auch zeitgemäße verhaltenstherapeutische Verfahren zum Einsatz kommen, aber der Hintergrund, vor dem sie stehen, ist kein störungsspezifischer, sondern ein personspezifischer (dem der erstere untergeordnet ist und nicht umgekehrt).
-2002-