Psychotherapie: Luxus oder Selbstverständlichkeit?
Psychotherapeuten erbringen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung Leistungen, die --im Gegensatz zu den meisten anderen vertragsärztlichen Leistungen-- antrags- und genehmigungspflichtig sind. Sie sind außerdem an strikte Zeitvorgaben gebunden, so daß ein Psychotherapeut keinerlei Möglichkeiten hat, durch Rationalisierung bzw. Mengenausweitung (mehr Patienten pro Zeiteinheit) sein Einkommen zu verbessern. Die Verpflichtung zur Teilnahme an der gesetzlichen Krankenversorgung bedeutet außerdem, daß gesetzlich Pflichtversicherte nicht privat behandelt werden dürfen, d.h. sie müssen zu den jeweils von den Kassen bezahlten Tarifen behandelt werden. Zu dieser Behandlung wird, wie gesagt, von den Kassen via Genehmigung ein ausdrücklicher Auftrag erteilt. Die Tarife aber werden nachträglich festgelegt, also nachdem die Leistung bereits erbracht ist. Wenn beispielsweise ein Handwerksbetrieb einen Auftrag erhielte und nach dessen Ausführung sich der Auftraggeber überlegte, wieviel er denn dafür bezahlen will, wobei er gleichzeitig darauf besteht, daß erstens neben ihm keine anderen Auftraggeber zugelassen sind und zweitens die Stückzahl pro Zeiteinheit limitiert sind, dann hätten wir ungefähr den Deal, zu dem die Vertragspsychotherapeuten sich verpflichtet haben. Dabei ist das Problem nicht primär, daß Psychotherapie antragspflichtig und zeitgebunden ist; das entspricht vielmehr ihrer Natur. Sondern das Problem ist, daß sie bezahlt wird, als gäbe es solche Restriktionen nicht.
Bis ca. 1993 war dieses Problem einigermaßen handhabbar, weil die Punktwerte, die die Grundlage der Abrechnung und damit des Umsatzes sind, relativ stabil und noch ausreichend waren. Dann aber sackten diese Punktwerte zunehmend ab, erstens wegen der zunehmenden Arbeitslosigkeit und der daraus resultierenden Beitragsverluste der Kassen, zweitens wegen des ungeheuren technischen Fortschritts, den sie Medizin gemacht hat und an dem natürlich eine Industrie auch etwas verdienen will, und drittens wegen einer zunehmend marktwirtschaftlichen Orientierung der Kassen selbst, die begannen, untereinander zu konkurrieren, sich mit billigeren Beiträgen die Mitglieder abspenstig zu machen und zu versuchen, diese Verbilligung, die man der Medizin- und Pharmaindustrie gegenüber nicht durchsetzen kann, nun bei den Leistungserbringern, also den Gesundheitsarbeitern --Ärzten, Psychologen, Krankengymnasten, Masseuren, etc.--, wieder hereinzuholen.
Es ist aber für die Psychotherapie nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell und inhaltlich das Todesurteil, wenn sie einer so verstandenen industriellen Verfertigung von Gesundheit untergeordnet werden soll. Die Psychoanalytiker haben das seit langem gesehen, nur die Verhaltenstherapeuten tun sich, wegen der naturwissenschaftlichen und in gewissem Sinne techniknahen Grundlage ihrer Verfahren, damit manchmal etwas schwer.
Dabei gibt es selbstverständlich Krankheiten, die mit der psychologischen Heilkunde besser zu behandeln sind als mit der medizinischen. Und selbstverständlich haben alle Patienten ein Recht darauf, mit den bestmöglichen Verfahren behandelt zu werden. Aber es ist auch klar, daß diese besten Verfahren nicht beliebig billig zu haben sind, eben weil sie nicht immer in beliebiger Menge und sozusagen industriell herstellbar sind. Im Falle der Psychotherapie ist der Grund dafür ein prinzipieller. Die Psychotherapie ist nämlich eine Leistung, die ihre Wirksamkeit wesentlich nicht nur aus den verwendeten Techniken schöpft, sondern auch aus der therapeutischen Beziehung. Und diese unterliegt, genau wie die psychische Entwicklung selbst, zeitlichen Gegebenheiten, die sich nicht beliebig rationalisieren lassen. Deshalb bleibt Psychotherapie auch im Zeitalter der industriellen Fertigung etwas sozusagen Handgearbeitetes und mithin in gewissem Sinne durchaus ein Luxus. Es gibt allerdings keinen Ersatz dafür, und wenn alles dem Diktat der industriellen Machbarkeit und den Gesetzen des shareholder-value unterworfen ist, werden auch andere unverzichtbare Bereiche eines menschenwürdigen Lebens den Anstrich des Luxuriösen bekommen.
Gegenwärtig scheinen leider mehr und mehr Anzeichen dafür zu sprechen, daß sich die prinzipiell nicht-industriellen Verfahren (wie die Psychotherapie) innerhalb eines ansonsten auf industrielle Fertigung ausgerichteten öffentlichen Gesundheitswesens nicht auf Dauer werden halten können. Sondern es steht zu befürchten, daß Kranke, die einer solchen Behandlung bedürfen, diese nur dann erhalten werden, wenn sie selbst (durch Eigenleistung oder eine Zusatzversicherung) dafür aufkommen. Ansonsten werden sie ersatzweise mit Medikamenten oder anderen industriellen Verfahren vorlieb nehmen müssen, wenigstens solange, bis die Ansätze zu einer industriellen neurobiologischen Therapie, wie sie etwa in der Hirnforschung erkennbar werden, ausreichende Fortschritte gemacht haben. Danach gibt es für die Psychotherapie zwei Möglichkeiten: entweder sie wird nur noch einer Elite als ein ausgesprochener Luxus zur Verfügung stehen, oder aber sie wird zu einer aus der persönlichen Verantwortlichkeit entspringenden Selbstverständlichkeit in dem Sinne, in dem z.B. die Steuerberatung eine solche Selbstverständlichkeit ist, obwohl das Finanzamt zur Beratung verpflichtet ist, es außerdem jede Menge Computerprogramme und andere industrielle Lösungen zu Steuerfragen gibt, und damit der Beruf des Steuerberaters eigentlich überflüssig wäre.