pro domo
'Psychotherapeutische Wundversorgung'
Die Verfahren der Psychotherapie werden zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt. Ist man also automatisch krank, wenn man zum Psychotherapeuten geht? Nein. Genau so wenig, wie man automatisch krank ist, wenn man zum Arzt geht.Psychotherapie hat nämlich neben dem Aspekt der (kurativen, palliativen und rehabilitativen) Krankenbehandlung auch noch die Aspekte der Prävention und der Persönlichkeitsentwicklung. Viele Psychotherapeuten bieten Coaching oder Training für bestimmte Bereiche des Verhaltens und der Persönlichkeit an. Auch ich tue das. Und es gibt das große Feld der Beratung, wo Probleme, etwa in Ehe und Partnerschaft, in einem Kontext zu lösen versucht werden, der nicht eigentlich psychotherapeutisch ist, aber sehr wohl psychotherapeutische Kenntnisse voraussetzt.
Da ist aber noch ein weiterer Bereich, nämlich Beschwerden, die nicht im eigentlichen Sinne krankhaft sind und dennoch behandelt werden müssen. In der Medizin zählen dazu die Wunden. Eine Wunde ist eine Verletzung und keine Krankheit. Der verwundete Körper tut in der Regel alles, um selbst mit der Verletzung fertig zu werden. Die Symptome, die man sieht und spürt, sind zum größten Teil Ausdruck dieser normalen Funktion des Organismus und seiner Selbstheilungskraft. Trotzdem tut man häufig gut daran, mit einer größeren Wunde, die vielleicht genäht oder sonstwie versorgt werden muss, zum Arzt zu gehen. Dadurch wird der Heilungsprozess gefördert und unterstützt.
Auch die Psyche ist verletzbar. Es gibt Situationen, in denen ein normaler Organismus und eine normale Psyche mit einer Verletzung, einer psychischen Wunde, reagiert. Zu diesen Situationen gehört z.B. der Tod eines geliebten Menschen, der Verlust eines Arbeitsplatzes, das sogenannte 'mobbing', oder ganz einfach der Liebeskummer. Wie in der Medizin, nennt man die auslösende Bedingung ein Trauma. Sehr schwere Traumata, etwa Folter, haben häufig eine psychische und/oder körperliche Erkrankung zur Folge. Kleinere Traumata, wie die oben erwähnten, heilen aber oft von selbst. Unterstützt wird das durch die, wie ich es nenne, 'psychotherapeutische Wundversorgung', die ganz analog zur medizinischen funktioniert, sich aber natürlich anderer Mittel bedient. (Die Ansätze, die ich dabei verwende, sind hauptsächlich psychoedukativ. Die 'Primärheilung' wird überwacht und mögliche Komplikationen (prolongierte Trauer, Suizidalität, PTSD, etc.) besprochen, so dass der Patient sie zunächst einmal erkennt, falls sie auftreten. Daneben spielen dosierte 'Ablenkung' und emotionale Stützung eine Rolle.)
Psychotherapeuten und Ärzte sind im Rahmen einer Behandlung auf Kosten der privaten oder gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet, eine Diagnose aus der sogenannten ICD-10 (der Internationalen Klassifikation von Krankheiten) zu stellen. Für den körperlichen Bereich gibt es in den Kapiteln 'S' und 'T' dieser Klassifikation Diagnosen, die auf den spezifischen Charakter der Wunde hinweisen und ihn nicht als Krankheit im engeren Sinne bezeichnen. Für das Kapitel 'F', in dem psychische Erkrankungen aufgelistet sind, fehlt jedoch eine solche Trennung. Alle dortigen Diagnosen beziehen sich auf krankheitswertige Störungen. Für die normale Trauerreaktion oder die leichtere psychische Verwundung kommt am ehesten die Diagnose 'F43.2' (Anpassungsstörung) in Betracht. Aber auch sie wird im Erläuterungstext des ICD-10 als "Krankheitsbild" beschrieben.
Neuerdings findet dieser Misstand in Psychotherapie und Psychiatrie vermehrt Beachtung (vgl. z.B. 'Normale Trauerreaktion oder depressive Störung?', Deutsches Ärzteblatt, PP, 12/08, S. 561f.). Es bleibt zu hoffen, dass er in kommenden Aktualisierungen der diagnostischen Manuale behoben wird. So lange bleibt nichts anderes übrig, als die Diagnose F43.2, ggf. mit dem Zusatz 'Normale Trauerreaktion', weiter zu verwenden. Die psychotherapeutische Wundversorgung jedenfalls ist seit langem fester Bestandteil des Leistungsspektrums meiner Praxis, denn sie hat sich in vielen Fällen sehr bewährt.
-2008-