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Geschichten

Wir erzählen Geschichten. In ihnen organisieren wir unsere Erfahrung, so dass ein Sinn und eine Gestalt(ung) entsteht. Im Unterschied zu einem Bericht, in dem die Ereignisse im Extremfall nur durch ihre zeitliche Abfolge verbunden sind (so wie Kinder ihre allerersten Schulaufsätze schreiben: 'dann... und dann... und dann...'), ist eine Geschichte immer ein Gewebe vieler verschiedener Verbindungen von Ereignissen. Da gibt es Gründe, Motive, Erklärungen, Ziele, und noch vieles mehr.

Wir brauchen Sinn. Es genügt nicht, wenn Ereignisse einfach nur stattfinden ohne in sinnhafter Weise miteinander verbunden zu sein. Wir brauchen psychische Konsistenzvgl. z.B. Klaus Grawe (1998): Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe. und trachten unter (fast) allen Umständen danach, einen Sinn, eine Verbindung zwischen Ereignissen herzustellen. (Selbst vor dem Zufall machen wir dabei nicht Halt).

Auch Naturwissenschaftler stellen natürlich Verbindungen her, nur tun sie das nicht, indem sie von der Wirkung her auf die Ursache, sondern von der Ursache her auf die Wirkung schauen. (Ein Arzt, beispielsweise, sucht zwar vom Symptom ausgehend nach der Ursache, aber das eigentlich Wissenschaftliche ist das nicht; das eigentlich Wissenschaftliche ist, dass er weiß, welche Ursachen solche Wirkungen hervorrufen können).

Unser Bedürfnis nach Sinn geht aber weit darüber hinaus. Es ist mehr verlangt als naturwissenschaftliche Erklärungen. Eine solche Ursache ist nämlich noch lange kein Grund. Der Grund, warum etwas geschieht, ist eine Sinnkonstruktion, die Ursache lediglich eine hervorrufende Bedingung. Die Ursachen können wir naturwissenschaftlich ermitteln, nicht aber die Gründe.

Wir brauchen Geschichten, in denen sich die Ereignisse 'fügen', so dass sie eine Gestalt ergeben. Geschichten, in denen man auf ein Ziel, im besten Fall ein happy end, zusteuert, und in denen oft erst im Lichte des Ziels alles was vorher war, eingeordnet und verstanden werden kann.
Solche Geschichten sind ebenso unwissenschaftlich wie sie unentbehrlich sind. Sie stehen aber nicht an sich in einem Widerspruch zur Wissenschaft, sondern sind einfach Sinnfindungen. In Widerspruch geraten sie nur, wenn die Wissenschaft behauptet, dass es außerhalb ihrer keinen Sinn gibt, oder die Geschichten einen Status als wissenschaftliche Erkenntnis beanspruchen.

Man kann allerdings etwas Wissenschaftliches als Geschichte und als Gleichnis erzählen, dann aber wirkt zum Sinn eher das Geschichtliche als das Wissenschaftliche. Umgekehrt versuchen viele, ihren Geschichten einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben, weil die dann vielleicht respektabler oder glaubwürdiger sind. Dabei biegen sie sich die Wissenschaft zurecht und bemerken auch nicht, dass eine gute Geschichte das nicht nötig hat.

Wie ungeheuer stark das narrative Element (manchmal auch im Sinne einer Lösungsverhinderung) wirkt, kann man am Beispiel des sogenannten 'Barbier-ParadoxesRussell, 1918: You can define the barber as 'one who shaves all those, and those only, who do not shave themselves.' The question is, does the barber shave himself? Vgl. a. Hughes,P. & Brecht,G. (1975): Vicious Circles And Infinity. ' von Bertrand Russell sehen, das ich hier in einer seiner vielen Fassungen kurz anführe:

Der König ordnet an, dass bei Eintritt in die Stadt jeder den Zweck seines Besuches genau angeben muss. Stellt sich heraus, dass er gelogen hat, wird er gehängt. Hat er die Wahrheit gesagt, darf er die Stadt ungehindert wieder verlassen. Eines Tages kommt ein Mann und antwortet auf die Frage nach dem Zweck seines Besuchs: "Ich komme um auf Grund der königlichen Verordnung gehängt zu werden".
Wenn er nun gehängt wird, hat er seinen Besuchszweck ausgeführt und man darf ihn nicht hängen. Wenn er nicht gehängt wird, hat er den Besuchszweck nicht ausgeführt und man muss ihn hängen.

Rein logisch wird hier ein Element definiert (der Besucher), das gleichzeitig zu zwei einander ausschließenden Mengen gehört: der Menge der Lügner und der Menge derjenigen, welche die Wahrheit sagen.
Ein solches Element gibt es nicht.

Aber man kann sich das doch vorstellen! So könnte die Geschichte doch gewesen sein...
Eben.

In der Geschichte sind die Ereignisse und Erlebnisse aufgehoben, und zwar durchaus im dreifachen Hegelschen Sinne: aufgelöst, bewahrt und emporgehoben. Eine Geschichte hat, so lernen es englisch sprechende Schulkinder, 'a beginning, a middle, and an end'. Oder, wie es jemand einmal anders ausdrückte, 'a beginning, a muddle, and an end', einen Anfang, einen Wirrwarr und ein Ende.

Geschichten, die kein (gutes) Ende haben, halten wir schwer aus. Nehmen wir an, jemand erzählt seinen Kindern folgende Gute-Nacht-Geschichte:

"... Der große böse Wolf aber hatte Kreide gefressen und sich die Pfote weiß bemehlt. Jetzt dachten die sieben Geißlein, er sei tatsächlich ihre Mutter und machten ihm die Türe auf. Da sprang er herein, riß sein fürchterliches Maul weit auf und happs, happs, fraß er sechs der Geißlein eins nach dem anderen auf.
So, und jetzt schlaft ihr recht schön!"

Da käme Protest. Es ist keine 'richtige' Geschichte. Das Ende fehlt.

Von genau dieser Art sind aber viele Geschichten, die wir uns selbst über bestimmte Ereignisse unseres Lebens, ganz besonders über traumatische, erzählen. Sie sind wie Alpträume, bei denen wir eigentlich zu früh aufwachen, nämlich dann, wenn es am schlimmsten ist, so dass auch hier das Ende fehlt.

Sigmund FreudS. Freud (1915-17):
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 18.Vorlesung: Die Fixierung an das Trauma, das Unbewußte.
beschrieb ein traumatisches Erlebnis folgendermaßen:

Wir nennen so ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, dass die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normalgewohnter Weise mißglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren müssen.

So kommt der normale Fluß des Erlebens durcheinander. Teile, die in einer Geschichte zusammengehören, können nicht gemeinsam erinnert werden. Das Ende wird abgetrennt. An die Stelle des Erinnerns tritt das Wiedererleben und es endet jedesmal und wieder und wieder, wenn es am schlimmsten ist. Man erstarrt, und auch körperlich wiederholt sich das Trauma: Stresshormone werden ausgeschüttet, aber es kann nicht gehandelt werden. Flucht und Kampf sind unmöglich. Was bleibt, ist die Möglichkeit, ganz abzuschalten und, wie man psychologisch sagt, zu dissoziieren. Man weiß dann später nicht, dass es gut ausgegangen ist. Der Moment, an dem man sagen konnte: 'Jetzt hab ich's überlebt und überstanden', ist nicht Teil der Geschichte, sondern existiert im Gedächtnis irgendwo anders, unabhängig, abgetrennt.
In der Psychotherapie werden diese getrennten Elemente behutsam und fachkundig zusammengefügt, so dass die Geschichte ganz und heil wird.

Das Wiedererlebte muss zum Erinnerten werden. Wenn die Traumata hinter uns liegen, geben sie Kraft. Solange wir aber nach hinten schauen, liegen sie vor uns - und nehmen die Kraft.

Geschichten erzeugen und befestigen soziale und kulturelle Grundwerte bzw. Kontexte. Sie vermitteln das Sich-in-andere-hineinversetzen-Können, das menschliche Mitgefühl und das Gefühl für die Sinnhaftigkeit der Welt und unserer Existenz.

Und Geschichten verarbeiten nicht nur Erlebnisse, sie erzeugen auch welche. Wir sind tief berührt von vielen Geschichten, die wir lesen oder die uns erzählt werden. Ebenso berührt und beeinflusst sind wir von der Geschichte, die wir uns über uns selbst erzählen.

Auch in anderen Bereichen als der oben angedeuteten Traumabehandlung ist Psychotherapie in einem ganz wesentlichen Sinne die 'Reparatur' der persönlichen Geschichte, so dass man mit ihr leben kann.

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