Vieles aber nicht alles Spirituelle ist religiös, und vieles aber nicht alles Religiöse ist spirituell.
• Wenn ich daran glaube, dass bestimmte Ereignisse wie die unbefleckte Empfängnis physisch stattgefunden haben - oder wie es ein amerikanisches Schulkind einmal ausdrückte: 'we believe what we know ain't so'-;
• wenn ich meine Gruppe oder meine Nation über den gemeinsamen religiösen Glauben definiere und also eigentlich 'gegen die anderen' glaube;
• wenn ich mit Gott verhandle und ihn als jemanden sehe, der bestraft und belohnt, so dass ich mich fürchte und 'brav' und gut bin, um bei ihm Punkte zu sammeln und einer Strafe zu entgehen;
• wenn der Glaube in enormen ökonomischen und hierarchischen Strukturen verwaltet wird, die sich als die jeweils 'allein seligmachenden' verstehen und deshalb von ihren Gläubigen Unterwerfung und Tribut fordern;
dann mag all das religiös sein, aber spirituell ist es nicht.
Religion in diesem - sich vor allem auch kirchlich manifestierenden - Sinne ist das vom Ego assimilierte Spirituelle. In der Religion wird dann unterschieden, bevorzugt, beherrscht und Macht ausgeübt.
Besonders die sogenannten Offenbarungsreligionen (und hier vor allem das Christentum und der Islam) haben eine außerordentlich unrühmliche Geschichte der Pervertierung des Spirituellen, die auch in unserer Zeit andauert. Im Namen der Religion wurde und wird Furcht und Hass verbreitet, jede Todsünde begangen und jeder Aspekt des Menschlichen wie des Heiligen in genau den Dreck getreten, aus dem uns die Religion doch erheben soll.
Für viele Gläubige ist die Befolgung der von ihrer jeweiligen Religion vorgegebenen Riten und die Verehrung der auf das Höhere hinweisenden Symbole eine spirituelle Erfahrung. Andere verweigern sich dem und lehnen mit der Religion auch die Spiritualität ab. Wieder andere bekämpfen die vorgefundenen Strukturen und schaffen vielleicht ihre eigenen, für die sie dann Anhänger werben mit dem Argument, dass ihre Struktur besser sei als die der anderen (das sind im besten Fall die Reformatoren, im üblichen schlimmeren Fall gewissenlose Psychopathen).
Es gibt Religionen, die im Ansatz relativ wenig äußere Struktur haben und dadurch deutlich spiritueller sind als andere, z.B. der Buddhismus und der vedantische Hinduismus im Gegensatz zu den Offenbarungsreligionen.
Und es gibt Menschen, die sich weit genug öffnen, dass das Spirituelle und die Gotteserfahrung unabhängig vom religiösen Überbau vorscheinen kann. Das sind vor allem die Mystiker, die es in jeder alten Religion gibt und die einander über alle Grenzen hinweg näher stehen als den Dogmen ihrer jeweiligen Religionen.
In der Spiritualität und der Mystik findet die Beschreibung nach dem Erleben statt und ist eine - mehr oder minder 'poetische' - Wiedergabe des stattgehabten Erlebens. Das Erleben ist vorgängig. Der Mystiker hat ein Erlebnis und versucht dann, es mit den ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen (oder anderen) Mitteln auszudrücken.
Anders in der Religion: hier ist die Beschreibung vorgängig. Es wird zuerst beschrieben, was zu glauben ist, dann soll das Erleben diesem Glauben folgen. Das spirituelle Erleben wird als ein auf diese festgelegten Glaubensinhalte bezogenes und von ihnen hervorgerufenes Phänomen verstanden.
Auch in Spiritualität und Mystik gibt es - neben den Beschreibungen des Erlebens - Instruktionen. Sie dienen dazu, andere dem spirituellen Erleben näher zu bringen. Aber sie sind formal, nicht inhaltlich. Sie sagen nicht, was man glauben, sondern was man tun soll und beziehen sich daher meist auf Handlungen, etwa eine Anleitung zur Meditation, oder auf Regeln der Lebensführung, die das Bereit-WerdenHervorrufen kann man es nicht. Es geht nur um die Bereitschaft, es geschehen zu lassen. für spirituelles Erleben unterstützen sollen.
Die Religion verlangt den Glauben an die Inhalte und die Befolgung der Glaubensregeln, damit wir dazugehören dürfen und damit wir die Teilhabe erwerben oder erhalten können. Wir beten, damit wir der Gnade teilhaftig werden; wir beichten, damit wir geläutert sind und unsere Zugehörigkeit wiederhergestellt ist.
In Spritualität und Mystik sind Zugehörigkeit und Teilhabe immerwährend und unverlierbar. Nur haben wir es sozusagen vergessen und müssen erst wieder lernen, es zu sehen und zu erleben. Ich bete nicht, damit ich in Gnaden aufgenommen werde, sondern weil ich es immer schon bin. "Beten", sagt der Theologe Klaus Otte, "ist [...] die Antwort auf ein Angerufensein und nicht die Verehrung eines dogmatischen Gottesbildes [...]".
In derselben Weise vertraue ich mich jemandem an und 'beichte', aber nicht, damit ich meine Zugehörigkeit wiederherstelle, sondern weil ich sie unverlierbar habe, genau wie der, dem ich beichte.
Ein aus gutem Grund sehr häufig zitierter Satz von Karl RahnerFrömmigkeit heute und morgen. In: Geist und Leben 39 (1966), S.335. Zur Quelle auf diesen Verweis klicken (28.4.12), einem der bedeutendsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts, lautet:
[...] der Fromme von morgen wird ein 'Mystiker' sein, einer, der etwas 'erfahren' hat, oder er wird nicht mehr sein,
und er fährt fort:
weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im voraus zu einer personalen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche öffentliche Überzeugung und religiöse Sitte aller mitgetragen wird, die bisher übliche religiöse Erziehung also nur noch eine sehr sekundäre Dressur für das religiös Institutionelle sein kann.
(Es ist für mich völlig unverständlich, dass derselbe Karl Rahner, der diese wunderbare Einsicht hatte, auch an einer katholischen Dogmensammlung mitarbeitete, die in einer jedwede mystische Gotteserfahrung vernichtenden Weise Glaubensinhalte diktiert und denjenigen mit ewiger Verdammnis bedroht, der sie nicht annimmt. Überhaupt scheint das, was viele Theologen und Kirchenlehrer sozusagen inter pares glauben, in manchen Punkten fundamental von dem abzuweichen, was den Schäflein gepredigt wird. - Hätten sie diesen 'anderen' Glauben nicht, müsste man sie für Einfaltspinsel halten. Aber was sind sie, wenn sie ihn haben und die Gemeinde lediglich mit Dogmen abspeisen?...)