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Zeit

Irgendwann war unsere kollektive Entwicklung und unser Bewusstsein soweit, dass wir die Zeit wahrnahmen. Wir bemerkten, dass die Zeit unserem Bewusstsein eine Grenze setzt, indem sie unaufhaltsam vergeht und wir mit ihr.

Irgendwann gab es die ersten menschenähnlichen Wesen, denen es auffiel, dass sie sterben werden. Ich stelle mir das sehr dramatisch vor. Es muss wie ein Schock gewesen sein.

Vielleicht war dieser Schock die Geburt des Menschen aus dem Tier und die Grundlage der Kultur. Man konnte jetzt die Toten nicht mehr einfach liegenlassen; der Tod war bedeutsam, er erforderte die allergrößte Aufmerksamkeit. Man begann, die Toten zur Ruhe zu betten und ihrer zu gedenken.

Der Schock, der in unseren Tagen schon in der Kinderzeit durch Erziehung und Erkenntnis und meist wenig dramatisch vor sich geht, verändert uns dennoch grundlegend. Rilkes Achte Duineser Elegie beschreibt das wunderschön.

Mit der Erkenntnis der Grenze entsteht die Vorstellung davon, was Jenseits liegt. Dass die Zeit einfach aufhören könnte, wenn unser Bewusstsein erlischt, ist unvorstellbar, weil das Bewusstsein sich außerhalb seiner selbst nichts vorstellen kann. Also schufen wir in der Vorstellung und im Jenseits die 'Ewigkeit' als unvergängliche Zeit.

Auch in anderer Weise versuchen wir, die Zeit anzuhalten. Sicherlich, so sagen wir, sind die platonischen Ideen zeitlos, die Logik, die Mathematik, die Materie, die Naturgesetze; das alles wird als unveränderlich gedacht; es besteht und bleibt.
Und wir haben die Schrift erfunden. Auch sie hält die Zeit an, 'verewigt', gibt uns das Gefühl, dem Tod und der Zeit ein Schnippchen schlagen zu können.

So sehr wirkt aber der ursprüngliche kollektive Schock noch in uns, dass wir wie gebannt auf das 'Ende' schauen und den Anfang kaum beachten.

Huang-Po(?-850 n.Chr.) Der Geist des Zen. Frankfurt: Fischer, 1997. S.77. erzählte folgende Geschichte:

Der Ältere Wei-Ming kletterte auf den Gipfel des Ta-Yü-Berges, um den Sechsten Patriarchen zu besuchen; dieser fragte ihn, warum er gekommen sei, um des Gewandes oder um des Dharmaalso um der äußeren Zeichen der Pilgerschaft oder um der Lehre willen willen. Der Ältere Wei-Ming antwortete, er sei nicht des Gewandes, sondern nur des Dharma wegen gekommen. Darauf sprach der Sechste Patriarch: "Vielleicht magst du deine Gedanken einen Augenblick sammeln und nicht in Begriffen von Gut und Böse denken." Wei-Ming tat, wie ihm geheißen, und der Sechste Patriarch fuhr fort: "Eben in dem Augenblick, in dem du nicht an Gutes und nicht an Böses denkst, kehre zu dem zurück, was du warst, ehe dein Vater und deine Mutter geboren wurden." Bei diesen Worten gelangte Wei-Ming zu einem plötzlichen schweigenden Begreifen.

Im Griechischen wurden zwei Arten von Zeit unterschieden: Chronos und Kairos.

Chronos -der Vater des Zeus, der das von ihm Erzeugte (seine Kinder) auch wieder auffrisst- ist die gemessene Zeit. Diese Zeit ist Bewegung, Werden und Vergehen. Sie 'verrinnt' in der Bewegung der Sandkörnchen im Stundenglas, in der Unruh der Uhr und im Vorrücken ihrer Zeiger, in der unablässigen Drehung der Erde um sich selbst und um die Sonne. Sie ist gleichförmig, in Verhältnisskalen quantifizierbar und damit vollständig berechenbar.

Eine gemessene Sekunde ist immer genau gleich"Eine Sekunde ist das 9.192.631.770-fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids Cäsium-133 entsprechenden Strahlung."
(Wikipedia.de, 14.10.07)
lang. Die erlebten Zeiteinheiten sind es nicht: manchmal vergehen sie wie im Fluge, manchmal scheinen sie sich endlos hinzuziehen. Die Musik ist die Kunstform der Zeit: Schwingungen einzelner Töne, sequentiell und parallel geordnet zu Takten und ganzen Musikstücken. In ihr wird Chronos am intensivsten erlebbar, weil in der Musik die Gestaltung von Zeit direkt mit Gefühlen und Stimmungen verbunden werden kann.

Kairos ist, im Gegensatz dazu, die Zeit für etwas, die 'rechte' Zeit, die Gunst der Stunde. Sie ist nicht (immer) messbar. Sie kommt und geht, wie die gute Gelegenheit -und wie der besondere Augenblick, der ewig ist und den wir doch nicht halten können. In der griechischen Mythologie ist Kairos der jüngste Sohn des Zeus, Gott der (glücklichen) Fügung und der Gelegenheit. Von dem Bildhauer Lysippos wurde er als Jüngling dargestellt, der vorne einen gelockten Haarschopf hatte, am Hinterkopf aber kahl war, so dass die Gelegenheit nur von vorne 'beim Schopfe' zu fassen war, von hinten aber nicht mehr.

Auf diese Zeit achten wir anders. Wir erwarten sie und bereiten uns vielleicht sogar darauf vor. Oder wir versuchen, in der spirituellen Übung ganz im jeweiligen Moment zu bleiben. Den rechten Zeitpunkt zum Start einer Mondrakete können wir sogar vorausberechnen, aber unsere jahrtausendealten Versuche, das -etwa durch Astrologie- auf alle Lebensbereiche auszudehnen, sind erfolglos geblieben. So einfach lässt sich Kairos nicht einfangen.

Zwei noch grundsätzlichere Konzeptionen der verrinnenden Zeit sind die des Rades und die des Pfeils.

Die hauptsächlich in den östlichen Kulturen gebräuchliche Vorstellung vom Rad der Zeit beschreibt den Aspekt des Immer-Wiederkehrenden: Tag und Nacht, der Wechsel der Jahreszeiten, Ebbe und Flut, Geburt und Tod.

Kreise schließen sich; sie führen nirgendwo hin. Es endet, wo es begonnen hat und beginnt aufs Neue. Es gibt deshalb keinen wesentlichen Fortschritt, keine überdauernde Entwicklung, nur die Stadien vieler zyklischer Prozesse. Aus diesen Zyklen entlassen zu werden ist das Nirvana, das Ende der Wiedergeburten.
Das Rad gibt Sicherheit. Man weiß was kommt. Es kommt das, was schon da war. Man weiß, dass sich nichts Wesentliches ändern wird, bzw. dass das, was sich ändert, nicht wesentlich ist. Man kann das alles gleichmütig anschauen. Es gibt keine 'ganz neue' Zukunft und auch keine wirklich wichtigen Ereignisse in der Vergangenheit.

Das Wesentliche bleibt im Rad dasselbe. In jedem Jahr, an jedem Tag, in jeder Sekunde bleibt das 'Ich bin' als das Wesentliche. Das Veränderliche - 'Ich bin hungrig', 'Ich telefoniere', 'Ich bin in einer wichtigen Sitzung' - ist das Unwesentliche.

Im Westen entwickelte sich unter dem Einfluss des Christentums die Vorstellung von der Zeit als Pfeil, der eine Richtung hat und ein Ziel, zu dem er unterwegs ist. Seine Bahn beginnt irgendwo und endet irgendwo anders. Die Schöpfung steht am Anfang, das Jüngste Gericht am Ende. Am Anfang die Geburt, am Ende der Tod, das 'Ewige Leben' oder die 'Ewige Verdammnis'. Wir sind unterwegs. Es gibt Ziele, Fortschritt, Entwicklung. Wichtig und wesentlich ist, was sich ändert bzw. was zu ändern ist. Was gleich bleibt, wird nicht beachtet.

In dieser linearen Zeit ist die Zukunft unsicher. Wir müssen uns um sie sorgen. Wir wissen nur, dass sie eben nicht wie das Vergangene sein wird, sondern ganz anders. Man sehnt die positiven Veränderungen herbei, fürchtet sich vor den negativen und entwickelt eine rastlose Tätigkeit, um die Zukunft möglichst positiv zu gestalten. In der Zukunft liegt der Lohn für die gute Leistung und die Strafe für das Versäumnis, sowohl auf Erden, wie auch beim Jüngsten Gericht, am Ende aller Tage.

JetztDie wichtigste Zeit ist Jetzt, die Gegenwart. Was ich erlebe, fühle, denke und tue, das erlebe, fühle, denke und tue ich Jetzt. Wenn ich für die Zukunft plane, plane ich Jetzt; wenn ich mich an Vergangenes erinnere, tue ich das Jetzt. Oft verwechseln wir das und tun so, als seien wir beim Planen in der Zukunft und beim Erinnern in der Vergangenheit. Wir sind aber immer Jetzt. (Wir sind ja auch nicht das Photo von uns, das wir betrachten: "Das bin ich" stimmt natürlich nicht).
Genau genommen ist Jetzt für unser Erleben die einzige Zeit. Alles, was ist, ist Jetzt.

In unserem Alltag sehen wir die Zeit meist als etwas, das vergeht und nicht als etwas, das da ist.
Deshalb besteht unser Verhältnis zur Zeit hauptsächlich darin, dass wir keine haben. Und es sind gerade die angeblich zeitsparenden Hilfsmittel und Vorrichtungen, die uns für immer mehr 'dringende' Dinge immer weniger Zeit lassen. Der technische Fortschritt und die ihn unterstützende Beschleunigung der Wirtschaft ('Turbo-Kapitalismus') konfrontiert uns mit immer Neuem, bevor wir noch Zeit hatten, das Vorhandene zu verstehen. So verbringen wir unsere Zeit mit der Lektüre von Betriebsanleitungen und seitenlangen Optionslisten. (Mein Autositz hat drei Elektromotoren und ich brauche einen Physiotherapeuten um ihn richtig einzustellen.) Wir haben immer mehr Optionen, deren Studium uns immer weniger Zeit für Gestaltung lässt.

Alles ist irgendwie wichtig. Es ist schon längst nicht mehr egal, ob in China ein Sack Reis umfällt. Und wenn es vorzeiten einmal darum ging, Informationen überhaupt zu beschaffen, so geht es jetzt darum, sie selektiv zu ignorieren, denn es droht der allgemeine Informationsinfarkt.

Unter dem Wust wichtiger Informationen verschwindet das Wesentliche, so wie die Zeit schwindet, die wir hatten, bis wir anfingen, sie zu sparen:

"Hätten Sie beispielsweise", klang die aschenfarbene Stimme des Agenten an Herrn Fusis Ohr, "schon vor zwanzig Jahren damit angefangen, täglich nur eine einzige Stunde einzusparen, dann besäßen Sie jetzt ein Guthaben von sechsundzwanzigmillionen­zweihundertundachtzigtausend Sekunden. Bei zwei Stunden täglich ersparter Zeit wäre es natürlich das Doppelte, also zweiundfünfzig­millionen­fünfhundertundsechzigtausend: Und ich bitte Sie, Herr Fusi, was sind schon zwei lumpige kleine Stunden angesichts einer solchen Summe?"
"Nichts!" rief Herr Fusi, "eine lächerliche Kleinigkeit!"
(Michael Ende, Momo)Michael Ende (1973): Momo. Stuttgart: Thienemann. Zitat von S.65

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