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Denken

Über das menschliche Denken gäbe es natürlich viel zu sagen. Etwa, dass es sprachlich-bildlich und selbstreferent ist. Ich will mich aber hier auf einen bestimmten Aspekt konzentrieren, nämlich den folgenden:

In vieler Weise ist Denken wie Atmen. Es ist eine Tätigkeit, die man zwar innnerhalb gewisser Grenzen bewusst steuern kann, aber das meiste davon geschieht völlig außerhalb der bewussten Kontrolle. Wer denken 'gelernt' hat, kann es besser steuern, so wie ein Perlentaucher oder Sänger die Atmung besser steuern kann als ein normaler Mensch. Immer aber bleibt das andauernde Denken, in dem sich nichts weiter äußert als eine Organtätigkeit des Gehirns, das sich, wie alle Organe, durch eben diese Tätigkeit in seiner Funktion erhält. Es ist das unaufhörliche Geschnatter und Gerassel, das im Kopf zu jeder wachen Stunde und Minute abläuft, nur gelegentlich unterbrochen durch bewusst beeinflusste, zielgerichtete Denkvorgänge.

Anstatt zu sagen: 'Ich denke', könnte man, wie schon Lichtenberg"Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt." (Lichtenberg, Georg Christoph: Sudelbücher (1765-1799), K76) vorschlug, meistens besser sagen: 'Es denkt'. Oder auch, wie ich irgendwo las: "Just thoughts. No thinker."

Er habe, sagt der junge Mann in der Sprechstunde, furchtbare Gedanken, ausgerechnet denen, die er liebe, etwas anzutun. Er könne sich nicht dagegen wehren; die Gedanken überfielen ihn unvorhersehbar und je mehr er versuche, ihrer Herr zu werden, desto schlimmer werde es. Wenn er mit den so 'Bedachten' darüber spreche, sei es ihm leichter, aber er wisse, dass er sie damit verletze, so dass er das erst tue, wenn er nicht mehr anders könne. Er könne sich deshalb kaum noch auf seine Arbeit konzentrieren und vernachlässige sich selbst und seine Umgebung.

Kinder können ihre Gedanken nicht von Taten unterscheiden. Ihre Phantasietätigkeit hat denselben Realitätsgrad wie die Vorgänge in der äußeren Welt. Und weil aus der frühen Kindheit auch eine vollkommen subjektive Weltsicht vorherrscht, in der die Welt wegen mir und nicht ich wegen ihr bestehe, kommt es dazu, dass Gedanken als unmittelbar wirksam empfunden werden.

(Einen einzigen physikalischen Ort gibt es tatsächlich, auf den unsere Gedanken einen direkten Einfluss haben. Das ist unser eigener Körper. Unsere Gedanken und Vorstellungen sind in der Lage dort, an diesem einzigen Ort, physikalische Veränderungen auszulösen, so dass wir etwa infolge eines Gedankens erröten. Das ist einer der Gründe, warum unser Körper in der physikalischen Welt eine Sonderstellung hat.)

Erwachsene machen Pläne, die sie dann umsetzen; im Kindesalter hingegen gibt es noch den direkten und unvermittelten Einfluss des Gedankens auf die Welt, nicht nur auf den eigenen Körper, so dass wir hier sogar von einer partiellen Identität sprechen können.

Auch bei Naturvölkern ist diese magische Verfasstheit häufig beschrieben worden. Erwähnt seien die Namen als Eigenschaften der Personen, nicht als einfache konventionelle und bedeutungslose Zuweisungen. Oder die Identität des Bildes mit dem Abgebildeten, so dass der Besitz des Bildes dem Besitz und der Kontrolle der Person gleichkommt. In unserem Kulturkreis besteht diese Verfasstheit auch noch in den (griechischen) Anfängen der Philosophie, die eben beginnt, sich aus dem magisch-mythischen Denken zu lösen (Thales und andere Vorsokratiker). Selbst bei Descartes finden wir, dass er der 'res cogitans' denselben Realitätsgrad wie der 'res extensa' zuschreibt, nämlich den der Substanz.

Auch in Märchen sind Gedanke und Tat oft nicht unterschieden: "In einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat" musste man behutsam mit den Wünschen umgehen. Wenn einer von der guten Fee drei Wünsche hatte, geschah es ihm oft, dass er sie vergeudete oder gar Schaden anrichtete, weil er seine Gedanken nicht zu kontrollieren verstand.

Die Auseinandersetzung mit Tat und Gedanken ist -wiederum in unserem Kulturkreis- eine Entwicklungsaufgabe ersten Ranges. Sie gelingt auch bei den meisten Erwachsenen nie vollständig, so dass immer kleine Reste der mythischen Verfasstheit bleiben, etwa im Aberglauben.

Wenn nun Gedanken und Taten dieselbe Wirksamkeit haben und wenn aus der subjektiven Weltsicht hervorgeht, dass die Welt von mir abhängt (anstatt ich von ihr), dann bin ich in ganz besonderer Weise für die Gedanken verantwortlich. Es entsteht also die Aufgaben, nicht nur die Taten, sondern auch die Gedanken zu kontrollieren.

Genau das versuchen Patienten, die unter obsessiven Zwängen, also unter Zwangsgedanken leiden. Bei diesen Patienten ist die Trennung von Tat und Gedanke als Entwicklungsschritt unvollständig geblieben. Sie versuchen nach wie vor, ihrer Gedanken in derselben Weise Herr zu werden wie ihrer Handlungen. Mit zunehmender Verzweiflung beobachten sie dann, wie das desto mehr misslingt, je mehr sie sich bemühen. Ihre Anstrengungen gehen oft bis zur psychischen und körperlichen Erschöpfung; sie belasten Beziehungen, führen zu sozialem Rückzug und zu depressiven Verstimmungen, ganz abgesehen von der Angst und den Schuldgefühlen, die durch das hartnäckige, unkontrollierbare Auftauchen der Gedanken verursacht werden.

Es ist aber, wie eingangs schon angedeutet, eine Grundfunktion des Gehirns, dass es denkt. Wie sehr wir dieser Spontanaktivität des Denkens unterliegen, wird auch in der bekannten Geschichte deutlich, in der einem Mann gesagt wird, er werde unter einem Baum einen großen Schatz finden, wenn er dort um Mitternacht bei Vollmond nachgrabe. Er dürfe aber beim Graben auf gar keinen Fall an rosarote Krokodile denken. -Je mehr wir versuchen, nicht an etwas zu denken, desto mehr denken wir eben daran.

Manchmal wird auch in der Beichte die Trennung von Tat und Gedanken unterschlagen, indem der Priester auch nach "sündigen Gedanken" fragt. Das ist ein Ansinnen, auf das es nur eine Antwort geben kann: "Ich bin für meine unabsichtlichen Gedanken nicht verantwortlich und es geht Sie deshalb nichts an!"

Dass auch wir der Nähe von Tat und Gedanken noch verpflichtet sind, zeigt sich etwa darin, dass wir das Wort "Gedankenfreiheit" überhaupt nicht merkwürdig finden und dass wir das berühmte Zitat aus Schillers Don Carlos -"Geben Sie Gedankenfreiheit"- nicht für den Unsinn halten, den es tatsächlich darstellt. Denn, wie es im Lied heisst: "Die Gedanken sind frei", und zwar vollständig und notwendig: Was denkbar ist, wird gedacht. Unfrei ist nur das Denken als solches: es geschieht in der Tat zwangsläufig.

Während also ein Entwicklungsziel darin besteht, unserer Handlungen wenigstens einigermaßen Herr zu werden, kann es nicht darin bestehen, mit allen Gedanken dasselbe zu tun. Dafür ist die absolute Trennung des Gedankens von der Tat eine Voraussetzung. Diese Trennung geschieht, wenn es uns bewusst wird, dass wir für unsere Gedanken nichts können, dass der Geist in der Tat weht wo er will, und dass wir dafür, im Gegensatz zu unseren Taten -zu denen übrigens auch das Sprechen gehört-, nicht verantwortlich sind.

Das permanente Geschnatter im Kopf können wir innerhalb gewisser Grenzen beeinflussen, aber nicht abstellen. Wir können Gedanken unterbrechen, sie durch andere ersetzen, uns angestrengt konzentrieren oder ablenken. Dann verschwindet das Geschnatter vorübergehend, aber es hört nicht dauerhaft auf.

In unserem Alltag geht das Denken dem Erleben meist voraus und führt es oder versucht es zu lenken. Es gibt Pläne, Erwartungen, Befürchtungen und anderes vorausdenkendes Geschnatter. In der Sammlung und der Meditation versuchen wir, dem Erleben den Vortritt zu lassen, es hinzunehmen, wie es kommt, und es danach denkend und freundlich anzuschauen.

Wenn wir sagen 'Ich denke', dann sind wir mit diesen Gedanken identifiziert - Das Bin Ich. Nicht aber, wenn wir erleben, dass 'es' denkt: Manchmal sitzen wir irgendwo und lassen es sein, das Atmen und Denken. 'Sein lassen' heißt nicht 'aufhören', sondern 'da-sein lassen'. Dann atmet es und denkt, wie es will und wie es eben kommt, wird langsam ruhiger und (geht) weiter und immer weiter:

Es denkt. Ich schaue zu.
Just thoughts. No thinker.

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