Worauf vertrauen wir eigentlich? Im Alltag vertrauen wir nicht allem und allen, aber zum Beispiel darauf, dass etwas Geplantes oder Verabredetes in der Regel auch eintritt, dass wir uns auf die meisten Menschen verlassen können, dass uns der Koch nicht in die Suppe spuckt, dass das Unangenehme vorbeigeht. Weniger klar ist uns, dass das Angenehme auch vorbeigeht, aber das ist im Rahmen des Alltags auch völlig "in Ordnung".
Wir vertrauen auf eine Ordnung. Im Alltag ist das die eben beschriebene Kleine Ordnung, die 'enttäuscht' werden kann, die wir aber dennoch anerkennen und zugrunde legen. Wenn wir den Horizont etwas weiter stecken, merken wir, dass die Ordnung nicht das Geringste mit 'angenehm' oder 'unangenehm' zu tun hat. Unsere selbstgemachte kleine Ordnung zielt aufs Angenehme, aber die Ordnung, der wir als Teil selbst angehören, hat damit nichts zu tun.
Wir nähern uns der größeren Ordnung - im Griechischen: Kosmos - einerseits wissenschaftlich, andererseits spirituell. Durch Beobachtung, Beschreibung und Experiment werden wir auf Aspekte dieser Ordnung aufmerksam, z.B. die Naturgesetze. Wir mögen uns über Einzelheiten des so Gefundenen uneins sein, aber kein Naturwissenschaftler würde jemals bestreiten, dass es eine solche Ordnung gibt. Auch der Umstand, dass wir immer wieder an Grenzen stoßen (müssen), ändert an diesem Vertrauen nichts.
Unser Erleben eröffnet einen spirituellen Zugang, der andere Aspekte dieser Ordnung aufzeigt (und natürlich gibt es nicht eine spirituelle Ordnung, der eine wissenschaftliche gegenübersteht, sondern es ist dieselbe; Heisenberg nannte sie die 'zentrale Ordnung'). Der spirituelle Zugang hat etwas mit einer seelischen Berührtheit zu tun, die nicht einfach eine vom Ego vorgeschobene Sentimentalität ist, sondern von dieser als eine Seelenbewegung unterschieden werden kann. Im Angesicht des Großen ist man nicht gerührt, sondern berührt.
"Enttäuscht" werden wir, wenn wir meinen, dass die Große Ordnung unseren Erwartungen, Plänen und Hoffnungen zu entsprechen habe und sie so unserer kleinen Ordnung unterwerfen wollen.
Ein ernsthafter Naturwissenschaftler würde nicht sagen: "Ich erwarte, dass sich die Natur meiner Vorstellung fügt". Wenn in einem Experiment etwas anderes herauskommt, dann wird sich seine Vorstellung der Natur fügen. Das Vertrauen bleibt davon nicht nur unberührt, sondern es beruht geradezu darauf, denn mit dem Vertrauen geht ein Sich-Fügen einher. Das heißt nicht, dass man fatalistisch oder trotzig mit den eigenen Anstrengungen aufhört; der Wissenschaftler hört ja auch nicht mit seiner Erkundung auf, nur weil nicht herausgekommen ist, was er erwartet hat; vielmehr wird sein Glaube an die Existenz einer Ordnung von wissenschaftlichen Misserfolgen überhaupt nicht beeinträchtigt (dasselbe gilt für die spirituelle Erkundung, aber hier ist es erheblich schwieriger, weil in unserem Erleben immer der Hang zum Angenehmen besteht).
Der deutsche Ausdruck 'sich fügen' zeigt auf etwas, in das wir gefügt sind, also die Ordnung als ein Größeres. Das Größere ist deshalb das Größere, weil ich als Teil es nicht in seiner Gesamtheit erfassen kann, nicht wissenschaftlich und auch nicht spirituell.
Wie ist es mit dem Tod? Er beendet die personale Kleine Ordnung, aber nicht die Große, in der wir "aufgehobenauch hier wieder im Hegelschen Sinne" sind.
Die Ordnung - das "All", Gott, das Sein, oder wie wir es nennen wollen - ist per definitionem vollständig. Sie kann in dieser Vollständigkeit nicht vor- und nicht gegenübergestellt werden, weil es keinen Ort außerhalb ihrer gibt.
Die Ordnung und das Vertrauen in sie umfasst Bindungen, Beziehungen, Beschaffenheiten, Prozesse und dergleichen, alles, was eben in der Welt und in uns als Teilen davon ist. Betrachten wir das Thema der Kleinen Ordnung noch einmal unter einem etwas anderen Blickwinkel:
Menschenmaß
Erstaunlich viele Leute glauben, dass die Erde eine Scheibe ist (flat earth); sie scheinen das auch ernst zu meinen. Obwohl die Theorie schon im griechischen Altertum eine Randerscheinung war, hat sie viele zeitgenössische Anhänger, die sich auf die Bibel und den englischen Arzt Samuel Birley Rowbotham (1816-1884) beziehen, der mit seiner 'Zetetischen Astronomie' einen Grundstein in der neueren Zeit legte.
In einem Diskussions-Video formulierte eine Verfechterin der Flachen Erde ihren Ausgangspunkt folgendermaßen:
Science […] is very difficult for the majority of people to understand. And it's designed that way. And so, in a lot of ways, hiding behind rocket science is similar to religion. If you look at the Catholic Church back in the days: Only we can interpret the bible, you have to listen to what we say. So in a lot of ways we're getting that same notion from science that says: Only we can interpret what these numbers are, you just need to trust us. But then when we actually do go and test some of their equations and they don't work, does that beg the question for us to go and test it for ourselves? Absolutely.
Was sie sagt, ist, dass sie Institutionen (Katholische Kirche, Regierung, Wissenschaft), von denen sie sich als unmündig und nicht vollwertig behandelt fühlt, nicht traut, sonden sich lieber mit den ihr tatsächlich zur Verfügung stehenden Mitteln - also der unmittelbaren Anschauung - und gemeinsam mit Gleichgesinnten ihre eigene, verständliche Ordnung schafft, in der sie sich aufgehoben fühlen kann.
Die Erde ist also flach. Eine runde Scheibe, deren Zentrum der Nordpol ist, um den herum in verschiedener Entfernung die Kontinente in der bekannten Anordnung liegen. Den Rand der Scheibe bildet der 150m hohe antarktische Eiswall, der auch dafür sorgt, dass das Wasser nicht ausläuft. Dieser Wall ist unzugänglich, weil er von der NASA und Truppen streng bewacht wird. Sonne, Mond, Sterne und Planeten sind Kugeln und bewegen sich in Ebenen kreisförmig über der Erdoberfläche. Die Sternenkuppel schließt das Ganze über den anderen Ebenen ab. (Dabei befindet sich die Sonne ca. 4500 km über der Erde und hat einen Durchmesser von etwa 50km.) Auf weitere Eigenschaften gehe ich nicht ein, es sei aber vermerkt, dass die Theorie der Erdscheibe 'Erklärungen' und teilweise sogar 'experimentelle Beweise' für viele himmelsmechanische, gravitationelle und allgemeinphysikalische Phänomene anbietet. Grundlage ist aber, dass die Erde flach ist und auch nicht anders sein kann, und zwar weil sie für einen Beobachter, etwa am Strand, flach aussieht.
NASA und Regierungen möchten, dass wir die Erde für eine Kugel halten und fälschen zu diesem Zweck Fotos, Filmaufnahmen, Mondlandungen und Physikbücher.
Ich erwähne das alles, weil es ein Licht auf einige unserer psychologischen Funktionen als Menschen liefert und auch für viele politische und religiöse Standpunkte gilt. Das Beispiel aus der Naturwissenschaft habe ich gewählt, weil auch sie bemerkenswerterweise nicht immun gegen die im Folgenden in aller Kürze ausgeführten Vorgänge ist.
Zunächst hat mich erstaunt, mit welcher Selbstsicherheit und Klarheit viele Vertreter der Theorie darüber berichten und andere zu überzeugen versuchen. Für sie scheint die Erdscheibe genau so selbstverständlich real zu sein, wie für uns die Erdkugel. Diese Klarheit ist verführerisch (und auch weil die Vertreter ihre Theorie im Internet ungleich stärker bewerben, als diejenigen, für die die Erdkugel eine Selbstverständlichkeit ist, gewinnt sie an Einfluss).
Verführerisch ist aber vor allem, dass das Universum auf Menschenmaß reduziert wird. Anstatt 13,8 Milliarden Lichtjahre nur noch wenige Tausend Kilometer. Im Kreationismus dasselbe: 6000 Jahre Erdalter anstatt 4,5 Milliarden Jahre. Bei der politischen Rechten: "unser Volk" anstatt fast 8 Milliarden Menschen.
In dem Großen fühlt man sich völlig verloren, man kann sich an nichts festhalten. Besonders nicht in unserer Zeit. Simone WeilSimone Weil (1934): Réflexions sur les causes de la liberté et de l'oppression sociale. [pdf; http://classiques.uqac.ca ; p.82, meine Übers.] schrieb 1934: "Wir leben in einer Welt, in der nichts mehr Menschenmaß hat". Denn nicht nur erweisen sich Zeit und Ausdehnung des Universums als unüberschaubar, sondern auch die von uns selbst hergestellten Verhältnisse der Industrialisierung, der globalen Ökonomie, der atomaren und ökologischen Bedrohung, des Datenuniversums und der digitalisierten Welt, die sich in den Jahren seit Weils Feststellung in geradezu atemberaubender Weise beschleunigt bzw. erst entwickelt haben.
Vielleicht gibt es deshalb eine Sehnsucht nach dem Konkreten und vor allem Überschaubaren. Das Unfassbare muss fassbar gemacht werden. Eine Zugehörigkeit und Geborgenheit ist für viele sonst nicht vorstellbar. Nicht kosmologisch, nicht religiös und nicht politisch. Entwicklungspsychologisch bleibt es bei einem Konkretismus im Sinne Piagets. Der Übergang vom Ontischen zum Ontologischen misslingt sozusagen. Gott muss eine Person sein, die Erde muss flach und zentral sein, 'unser Volk' ('wir' im Gegensatz zu 'denen da') muss hervorgehoben sein. Es werden deshalb große und sehr ernst gemeinte 'wissenschaftliche' und/oder rhetorische Anstrengungen unternommen, um diese Standpunkte zu festigen und zu verteidigen. Die physikalische Kosmologie, die Evolutionstheorie und das Verbundensein aller Menschen können so nicht hingenommen werden. Zum Beispiel setzen Karl Poppers 'Logik der Forschung' und seine 'Offene Gesellschaft' eben die Abstraktionsleistungen voraus, die im Konkretismus fehlen, so dass sogar eine nicht geringe Anzahl von Wissenschaftlern in der Ordnung der Welt nach jenem Bild der Geschlossenheit suchen und Politiker wie Geistliche dieses Offene nicht gut aushalten; die Tendenz, es zu schließen, ist allgegenwärtig.
Das Offene schafft eine Spannung, die manchmal sehr anstrengend ist. Dann sind die konkretistischen Standpunkte, die es schließen wollen, nachgerade entspannend. Wer sich lange genug mit solchen Ansichten beschäftigt, wird vielleicht feststellen, wie sie eine fast angenehm zu nennende Attraktion auszuüben beginnen.
Neurobiologisch könnte man vielleicht sagen, dass diese Art der Entspannung ein Loslassen der präfrontalen Anstrengung zugunsten älterer und sozusagen 'festverdrahteter' Reaktionsweisen des limbischen Systems und des Stammhirns ist, also gefühlsbestimmte bzw. im Extremfall triebgesteuerte Reaktionen ("scharfes Denken ist schmerzhaft; der vernünftige Mensch vermeidet es, wo er kann", spottete Brecht).
Aber natürlich ist dies nicht die einzig mögliche Art der Entspannung und der Zugehörigkeit. Es ist - wie bereits oben erwähnt - in den meisten Naturwissenschaftlern ein tiefes, sozusagen ontologisches Vertrauen in die Existenz einer Großen Ordnung, das durch fehlgeschlagene Experimente ebenso wenig erschüttert wird wie durch Theorien, die sich als Irrtum entpuppen. Anders könnten sie ihre Grundlagenforschung auch nicht machen, denn sie erschiene dann völlig unsinnig. Dieses Vertrauen ist im Grunde dasselbe, das auch im spirituellen Erleben eine Rolle spielt. Mystiker aller großen Religionen berichten vom unmittelbaren Erleben dieses Großen, das die meisten 'Gott' nennen, ohne 'ihn' damit in irgendeiner Form festzulegen.
Es ist das, dem wir als Ganzem nicht gegenübertreten können, eben weil wir ihm zugehören und daran teilhaben bzw. selbst darin begründet sind. Das Menschenmaß kann nicht in unseren Versuchen bestehen, alles so klein und beherrschbar zu machen, dass wir uns groß vorkommen, sondern darin, unsere Größe in der Teilhabe an dem Großen zu verwirklichen.