Wenn ich mich in den Finger geschnitten habe, kann ich das von innen erleben - es tut weh -, und ich kann es von außen beobachten - es blutet.
Das letztere ist die sogenannte 'Perspektive der dritten Person', eines quasi-objektiven Beobachters; das erste ist die 'Perspektive der ersten Person', eines erlebenden Subjekts. Anstatt 'Erleben' könnten wir auch sagen 'Empfinden' oder, wie in der phänomenologischen Psychotherapie, 'Spüren'. In der Philosophie des Geistes wird das Erleben 'phänomenales Bewusstsein' genannt und seine Elemente, z.B. das Erleben der Farbe Gelb, werden als 'Qualiavon lat. 'qualis': von welcher Beschaffenheit' bezeichnet.
Dabei gibt es Phänomene, die wir beobachten, aber nicht erleben können: z.B. Ultraschall, UV-Strahlen, Radioaktivität, etc. Und es gibt Phänomene, die wir erleben, aber nicht beobachten können: z.B. den freien Willensakt oder eine optische Täuschung wie die Müller-Lyersche:
Im Erleben erscheinen die beiden Abschnitte der Linie deutlich verschieden lang zu sein. Wenn wir aber durch eine besondere Methode der Beobachtung, nämlich eine Messung, nachprüfen, stellen wir fest, dass sie genau gleich lang sind. Das aber können wir nicht erleben, sondern eben nur beobachten.
Ein anderes Beispiel ist der sogenannte Phantomschmerz: eine amputierte Gliedmaße schmerzt. Der Schmerz wird erlebt, als sei sie noch da. Die Beobachtung zeigt, dass sie es nicht ist.
Die Welt kann ich beobachten und 'begreifen', aber streng genommen nicht erleben. Vielmehr erlebe ich mich in ihr und durch sie. Was wir erleben, sind nicht die Ereignisse, sondern uns selbst in dem Ereignis. Wir haben Erlebnismöglichkeiten, die von den Ereignissen nur ausgelöst werden, aber mit ihnen nicht identisch sind. Anders ausgedrückt: Im Erleben stehe ich nicht gegenüber. 'Ich' bin kein Subjekt, das ein externes Objekt beobachtet, sondern das Erleben ist eine Einheit.
Die Fähigkeit zu solchen mentalen Vorgängen nehmen wir auch bei anderen Menschen an. Das ist die Perspektive der 'zweiten Person', die in den Kognitionswissenschaften auch Theory of Mind genannt wird. Das Erleben der anderen Menschen mag dabei im einzelnen verschieden von unserem eigenen sein, aber wir sind überzeugt, dass es dem unseren prinzipiell ähnlich ist. Deshalb können wir z.B. sinnvoll darüber reden und es auch nachempfindenDafür sind die sogenannten 'Spiegelneurone' zuständig, aber ihre gemessene Aktivierung sagt ungefähr soviel wie eine Leuchtdiode, die anzeigt, dass das Radio an ist, aber nicht anzeigen kann, was gerade empfangen wird..
Grundsätzlich aber haben wir diesen, wie ich es einmal nennen will, 'doppelten Zugang' nur zu uns selbst. Unser eigener Körper ist das einzige Objekt der Welt, das wir sowohl von außen wie von innen 'anschauen' können!
Von der einen Seite aus sind wir organisierte Materie und elektrische Entladungen in neuronalen Schaltkreisen. (Unser Verhalten hat Ursachen.)
Von der anderen Seite aus sind wir unser Erlebtes: Gefühle, Erinnerungen, Willensakte, Vorstellungen, also mentale bzw. geistige Vorgänge. (Unser Verhalten hat Gründe.)
Von der einen Seite aus ist es unzulässig, etwas wie mentale Verursachung anzunehmen, also eine Verursachung physischer Ereignisse durch nicht-physische, etwa die Auslösung einer physischen Aktion oder einer materiellen Veränderung durch Gedanken oder den freien Willen. (Mentale Verursachung widerspricht den Grundlagen der (Makro)physik. "Immer dann, wenn man lebendige Organismen als physikalische oder chemische Systeme betrachtet, müssen sie sich auch wie solche verhalten", schreibt Werner HeisenbergHeisenberg, Werner (1959): Physik und Philosophie. Stuttgart: Hirzel, 7.Aufl. 2007, S149f..)
Von der anderen Seite aus erleben wir genau das, nämlich mentale Verursachung, alltäglich: ich esse, weil ich hungrig bin, handle nach Plänen und Vorstellungen oder lese einen Roman um die darin beschriebenen Erlebnisse in meiner Weise nachzuvollziehen. Auch das, was wir den Sinn von etwas nennen, benötigt einen Kontext, der dem Erleben Raum lässt.
In der menschlichen Informationsverarbeitung, beim Urteilen, Entscheiden und bei der Risikoeinschätzung treten diese beiden Aspekte ebenfalls zutage. Die israelisch-amerikanischen Psychologen Daniel Kahneman und Amos TverskyKahneman, Daniel (2011): Thinking, fast and slow. London: Allen Lane / Penguin. haben sich lange und eingehend mit diesen Fragen beschäftigt.
Sie unterscheiden ein 'System 1', das schnelle, intuitive, großteils unbewusste Entscheidungen möglich macht, die stark vom Erleben beeinflusst sind. Dieses System stellt Informationen in einen - wie ich es einmal nennen will - 'narrativen' Zusammenhang und verarbeitet Sprache eher konnotativ.
Dem gegenüber steht das 'System 2', das langsam ('Nachdenken'), sequenziell-methodisch (algorithmisch) und bewusst ist. Es wird stark vom Beobachten beeinflusst, stellt Informationen in einen 'mathematisch-logischen' Zusammenhang und verarbeitet Sprache eher denotativ.
Im Alltag sind diese beiden Systeme oft in Übereinstimmung. Betrachten wir aber das folgende Beispiela.a.O. S.156ff., bei dem das nicht so ist:
Linda is thirty-one years old, single, outspoken, and very bright. She majored in philosophy. As a student, she was deeply concerned with issues of discrimination and social justice, and also participated in antinuclear demonstrations.
(Linda ist 31, single, geradeheraus und sehr intelligent. Ihr Hauptfach im College war Philosophie. Als Studentin kümmerte sie sich sehr um Fragen der Diskriminierung und der sozialen Gerechtigkeit, und sie nahm an Anti-Kernkraft-Demonstrationen teil).
Es wurde gefragt:
Which alternative is more probable?
(Welche Alternative ist wahrscheinlicher?):
Linda is a bank teller
(Linda ist Bankangestellte.)
Linda is a bank teller and is active in the feminist movement.
(Linda ist Bankangestellte und in der feministischen Bewegung aktiv.)
Die große Mehrheit der Versuchspersonen wählte die zweite Möglichkeit, obwohl sie, rein logisch betrachtet, natürlich nicht wahrscheinlicher sein kann als die erste, in der sie ja bereits vollständig inbegriffen ist. Hier wird, wie in vielen ähnlichen Fällen, die 'narrative Konsistenz' der 'logischen Konsistenz' vorgezogen.
In der 'narrativen Konsistenz' stimmen Affekt und Gedanke überein, auch wenn dabei ein logischer Bruch entsteht; in der 'logischen Konsistenz' spielt der Affekt keine Rolle, sondern behindert das Vorgehen eher. Anstatt 'Konsistenz' könnte man auf deutsch auch 'Stimmigkeit' sagen.
Wir nehmen intuitiv an, dass die über Linda gegebenen Informationen deshalb gegeben wurden, weil sie bedeutsam sind und ordnen daher eine 'Geschichte' zu, auch wenn wir damit einen logischen Fehler machen. Tatsächlich machen wir solche Fehler sehr häufig und viele Entscheidungen werden uns - absichtlich oder unabsichtlich - in einer Darstellung vorgelegt, die das narrativ schlüssige aber unter Umständen logisch falsche Vorgehen begünstigt.
Intuitionen (System 1, oder wie Gerd GigerenzerGigerenzer, Gerd (2007): Bauchentscheidungen. München: Bertelsmann es nennt: Bauchentscheidungen) sind bequem, häufig korrekt und besonders nützlich, wo es schnell gehen muss. In manchen Fällen aber sind sie desaströs. Da trügt nämlich der Schein und wir müssen unbedingt anhalten und nachdenken, auch wenn's unbequem ist. Das geht schon damit los, dass wir die weitgehend unbewusste Arbeit des 'System 1' ohne Nachdenken nicht erforschen können. Oder, wie im eingangs erwähnten Beispiel: dass wir die Müller-Lyersche Täuschung nachmessen - bevor wir Geld oder Arbeit in ein Augenschein-Urteil investieren.
An die Grenzen gelangen wir ohne Nachdenken ebenso wenig, wie wir durch Nachdenken allein das Besondere und Eigentümliche unseres Erlebens ergründen können.
Das Spüren und Erleben ist nah; das Beobachten geschieht aus einer gewissen Entfernung. Die Nähe ist das emotional Unmittelbare und 'Gefühlsmäßige' des Erlebens. Beim Beobachten treten wir davon sozusagen einen Schritt zurück. In der Kontemplation, dem völlig gesammelten Schauen, gehen Beobachtung und Erleben ineinander auf.
Beobachtungen können von einer Maschine ausgeführt werden. Wir haben Kameras und andere Instrumente entwickelt, die uns in der Wissenschaft und im Alltag bestimmte Beobachtungs- und Messaufgaben abnehmen. Aber es gibt bis heute keine Maschine, von der wir sicher wissen, dass sie etwas erlebt, und es bleibt die Frage, ob das überhaupt möglich ist.
Zum Bereich des Beobachtens gehört das eigentliche beobachtende Wahrnehmen ebenso wie das Messen und das logisch-ordnende Denken. Zum Erleben gehört das Gefühl und die Gestimmtheit ebenso wie der Glaube und das Denken in Kategorien assoziativer Sinnhaftigkeit (das in vielen Bereichen eine große Rolle spielt, besonders in der Kunst, aber z.B. auch in Pseudowissenschaften wie der Astrologie, Numerologie oder Alchimie).
Ken WilberKen Wilber (1995): Sex, Ecology, Spirituality. Dt: Eros, Kosmos, Logos. Frankfurt: Krüger, 1996. macht eine ähnliche Unterscheidung, nämlich zwischen einer individuellen Innenschau ("Ich"; entspricht dem Erleben) und einer individuellen Außenperspektive ("Es"; entspricht dem Beobachten). Der ersten ordnet er zu: Ästhetik, Subjektivität, 'Wahrhaftigkeit', Hermeneutik und Psychoanalyse; der zweiten dementsprechend: Wissenschaft, Objektivität, 'Wahrheit', experimentelle Methodik und Neurophysiologie.
Beide Modi, Erleben und Beobachten, sind in uns realisiert. Sie existieren in vielfältiger, enger Verschränkung. Sie sind verschieden, aber nicht getrennt, weil sie, soweit wir wissen, an das materielle Substrat unseres Körpers gebunden sind und weil wir oft nicht sagen können wo genau das eine anfängt und das andere aufhört.
Beide beeinflussen einander: ein physischer Reiz löst ein bestimmtes Erleben aus, und unser Erleben führt zu physikalischen Veränderungen in unserem Organismus (und nur dort!). Unser Beobachten und das rationale Denken wird in vielfältiger Weise vom Erleben - besonders auch von Emotionenvgl. Damasio, Antonio (1994): Descartes' Error: Emotion, Reason, and the Human Brain. Putnam/Penguin. - beeinflusst, und dieses Erleben wiederum von unserer Beobachtung der Welt.
Beide entwickeln sich in und mit unserem BewusstseinGleichwohl können erhebliche Anteile ins Unbewusste verschoben werden.. Trotzdem kann die eine Seite nicht auf die andere reduziert werden. Besonders der einfachen Reduktion dieses Bewusstseins auf die Physis, wie sie neuerdings in der Hirnforschung wieder versucht wird, wird auch von Seiten der Physik widersprochen. So merkt der Heidelberger Physiker H.D. ZehZeh, H.D. (2000): The problem of conscious observation in quantum mechanical description. Found.Phys.Lett. 13 (2000) 221-233 an:
"For epistemological reasons it is indeed strictly impossible to derive the concept of subjective consiousness (awareness) from a physical world."
Der Philosoph David ChalmersDavid Chalmers (1995): Facing Up to the Problem of Consciousness. geht sogar so weit, das subjektive Erleben als eine fundamentale Größe einzuführen. Er schreibt:
Experience may arise from the physical, but it is not entailed by the physical. [...]
I suggest that a theory of consciousness should take experience as fundamental. We know that a theory of consciousness requires the addition of something fundamental to our ontology, as everything in physical theory is compatible with the absence of consciousness. We might add some entirely new nonphysical feature, from which experience can be derived, but it is hard to see what such a feature would be like. More likely, we will take experience itself as a fundamental feature of the world, alongside mass, charge, and space-time. If we take experience as fundamental, then we can go about the business of constructing a theory of experience.
Das 'Fundamentale' des Erlebens ist nicht-physikalisch, sagt Chalmers. Daher ist auch die resultierende Theorie nicht-physisch und das Erleben bleibt vom rein physischen Standpunkt aus tatsächlich 'mysteriös'.
Die Unterscheidung der beiden Modi ist für mich durch die Lebenspraxis vermittelt: Unser Leben ist nach ihr ausgerichtet. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Ohne Beobachtung keine Wissenschaft und keine Technik. Ohne Erleben keine Kunst, kein Recht und keine 'Menschlichkeit'Hier verstanden als die reale Menschlichkeit mit all ihren Unzulänglichkeiten, nicht als das humanistische Ideal..
(Ich weiß nicht, was schlimmer wäre: die Herrschaft einer Technik, in der das Erleben (also z.B. der freie Wille) zum bloßen Epiphänomen'Nebenprodukt', von dem keinerlei Einfluss ausgeht wird, oder ein Erleben, dem man jederzeit ausgeliefert ist, ohne die Möglichkeit zu haben, einen Schritt zurückzutreten und beobachtende Distanz dazu zu schaffen, wie es beispielsweise im traumatischen und posttraumatischen Erleben geschieht.)
Das spiegelt sich auch in der Sprache wieder: es gibt die Sprache des Erlebens in Gedichten und Erzählungen und die Sprache des Beobachtens in wissenschaftlichen Sätzen und technischen Berichten.
Das Erleben findet außerhalb naturwissenschaftlicher Erklärungen statt: es ist phänomenal eigenständig und darin auch nicht auf die Physis reduzierbar, obwohl es an sie bestimmbar gebunden ist. Ebenso findet die Naturwissenschaft außerhalb des bewertenden Erlebens statt und kann nicht zurechtgebogen werden etwa durch religiöse Vorstellungen oder ein Rechtssystem.
Außer Erleben und Beobachten gibt es noch weitere Grundmodi, die ich erwähnen, aber hier nicht näher darauf eingehen will, obwohl sie natürlich, wie die beiden anderen, allgegenwärtig sind. Da ist zum einen das Vorstellen und Assoziieren, und dann natürlich das Erinnern.
1. Assoziieren
Es ist uns Menschen (unseren Gehirnen?) eigentümlich, Ereignisse, also Erlebtes und Beobachtetes, zu komplexen Gestalten zusammenzubinden und sie mit anderen Möglichkeiten oder Erinnerungen zu verknüpfen. Manchmal geschieht das in Sekundenbruchteilen, denn wir haben extrem leistungsfähige Gehirne. Wenn wir etwa in einer vollen U-Bahn Angst bekommen, dann werden die Außenreize (warm, stickig, eng, usw.) mit den Innenreizen, dem Angstgefühl, gemeinsam als eine Assoziationsgestalt gespeichert und zwar sowohl als phänomenale wie auch als kausale Verknüpfung ("ich habe Angst, weil es stickig und eng ist").
Wir können uns etwas Reales oder Phantasiertes vorstellen und wir können Ereignisse fast beliebig verbinden und sie interpretieren und deuten (d.h. sie wieder in Verbindung mit noch anderen Ereignissen oder Konzepten bringen). Das ist auch das Prinzip der Geschichten, die wir uns erzählen, und der Meinungen, die wir haben.
Aus Assoziationen und Interpretationen kann, wie bei einem Kriminalfall oder einer Erfindung, tatsächlich eine vergangene oder zukünftige Wirklichkeit beschrieben werden. Auch gegenwärtige Erlebnisse und Beobachtungen werden bewusst oder unbewusst augenblicklich assoziativ erweitert, interpretiert und so in einen Kontext eingeordnet ("Das hat er jetzt nur gesagt, weil er merkt, dass er vorhin Unrecht hatte und weil seine Eltern da sind"). Aus der Herstellung und Abrufung solcher Assoziationen besteht ein großer Teil unserer permanenten Denktätigkeit. Das geschieht so schnell, dass wir es oft gar nicht mitkriegen.
Manchmal hat die vorgestellte Wirklichkeit denselben Realitätsgrad wie die reale. Das ist bei Kindern so, aber auch z.B. bei manchen Angst- und Zwangspatienten, bei denen die Vorstellung sich erfolgreich für die Wirklichkeit ausgibt und das (vermeidende) Verhalten diktiert. Aber auch für uns alle gilt das: zum Beispiel wird die Vorstellung von dem, was wir sind, für vollkommen real gehalten, wenn wir uns irgendwo vorstellen (!) und über uns 'wahrheitsgemäß' Auskunft geben - und zwar auch dann, wenn wir eigentlich wissen, dass sich diese Vorstellung immer wieder ändert.
So hat die Frage "Wer bin ich?" im Rahmen unserer Vorstellungen, Assoziationen und (Be-)Deutungen keine wirkliche Antwort. Es ist, wie einmal jemand sagte, als versuchten wir, in unsere eigenen Zähne zu beißen.
2. Erinnern
Ohne Erinnerung gibt es keine Person oder Persönlichkeit. Unser Gefühl für die eigene Beständigkeit und Identität kommt wesentlich aus der Erinnerung dessen, was wir unsere Geschichte bzw. unser Leben nennen. Es gibt ohne Erinnerung auch keine zeitlich überdauernden Assoziationen und Bedeutungen vom Erlebtem und Beobachtetem. Psychologen und Neurobiologen unterscheiden verschiedene Gedächtnisformen, wobei das Erinnern meist ein aktiver Prozess ist, bei dem nicht nur Inhalte von der 'Festplatte' geholt werden, sondern sie werden dabei häufig leicht verändert und nicht in genau derselben Form wieder gespeichert, in der sie 'er-innert' worden sind. Daher kommen zum Beispiel - durchaus ernst gemeinte - Aussagen wie: "Früher war alles besser."