Eigentlich ist der Mensch innerhalb der durch die Physik zu erklärenden Welt. Indem wir aber begannen, die Welt konsequent physikalisch zu untersuchen, nahmen wir uns selbst aus ihr heraus und stellten uns gegenüber, denn als Teil einer im (klassisch-)physikalischen Sinne kausal determinierten Welt wäre auch der Mensch kausal vorherbestimmt und deshalb unfähig, irgendetwas selbst zu bewirken oder den Ablauf zu ändern. Es erfolgte also die strikte Trennung von Subjekt und Objekt und wir wurden als Wissenschaftler zu isolierten Beobachtern des WeltprozessesIch greife hier Überlegungen auf, die Hans-Peter Dürr (emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik) in einem seiner Vorträge ("Wir erleben mehr als wir begreifen") ausführte..
Die Subjekt-Objekt-Trennung bezieht sich auch auf uns selbst. Als Subjekte beobachten wir uns selbst (und andere Menschen) wissenschaftlich und wir werden als Objekte von uns selbst und anderen beobachtet.
Dieses Vorgehen ist in mancher Hinsicht außerordentlich erfolgreich. Was man jedoch aus dem Blickwinkel des isolierten Beobachters nicht sehen kann, ist das Erleben und das wirklich Lebendige. Man kann z.B. das Verhalten von Menschenmengen in U-Bahn-Gängen und auf Rolltreppen physikalisch einwandfrei mit hydrodynamischen Gleichungen darstellen. Was dabei wegfällt, ist das Leben der einzelnen und die Lebendigkeit des Gesamten. Es ist durch die physikalischen Gesetze des MesokosmosMikrokosmos: die Welt der Elementarteilchen;
Mesokosmos: die physikalische 'Alltagswelt';
Makrokosmos: das Universum., die sich weitgehend auf solche über Mengen gemittelten Beobachtungen beziehen, nicht abbildbar. Bereits durch psychologische Gruppenexperimente und Statistiken fällt ja das individuell-Psychische unter den Tisch.
Inzwischen zeigen sich jedoch gerade durch unsere Beobachtung gewisse Grenzen, an denen wir mit den naturwissenschaftlichen Erklärungen nicht fortfahren können, ohne deren Prämissen in Frage zu stellen.
Dass diese Grenzen existieren, bedeutet natürlich nicht, dass alles innerhalb sinnlos oder absurd ist (wie es manchen Philosophen vorkam). Die Grenzen eines Landes machen ja das Land selbst nicht unbewohnbar. Deshalb ist natürlich auch die Wissenschaft brauchbar und gut. Nur hat sie eben eine Grenze. (Diese Grenze hat sich im Laufe unserer Geschichte sehr geweitet und wird das wahrscheinlich auch in Zukunft tun. Ich bin aber überzeugt, dass es sie immer geben wird.)
Die Betonung der Grenze soll auch nicht suggerieren, dass 'dahinter' noch etwas anderes, z.B. Gott, sei. Es ist also keinerlei indirekter 'Gottesbeweis' oder Jenseitigkeit intendiert. Wohl aber weisen die Grenzen darauf hin, dass wir selbst innerhalb ihrer stehen und nicht wirklich von außen auf uns und die Welt schauen. Wenn wir den Standpunkt des gegenüberstehenden Beobachters einnehmen, übersehen wir das leicht und manchmal macht uns erst die Grenze wieder darauf aufmerksam. Unsere Beobachtung als Wissenschaftler, der gegenüber steht und von dem Beobachteten getrennt ist, beschreibt nur den einen Teil der Welt, der auf diese Weise eben zugänglich ist. Die Grenze ist also nicht etwas, was ein Diesseits von einem Jenseits trennt, sondern etwas, was darauf hinweist, dass es innerhalb der Welt tatsächlich mehr gibt als wir beobachtend begreifen können.
Die Grenze ist eine Grenze der Subjekt-Objekt-Trennung, eine Grenze des Gegenüber-Stehens und damit des Ego. An einem bestimmten Punkt merken wir nämlich, dass wir weder dem Materiellen noch dem 'Geist' als Ganzem gegenübertreten oder gegenüberstehen können. Denn wir sind selbst Teile davon und haben also keinen letztendlichen archimedischen Punkt außerhalb dieses Ganzen. Damit ist auch die Grenze unseres unterscheidenden Bewusstseins und der Konzepte, mit denen es operiert, erreicht.
Wenn wir achtgeben, merken wir z.B., wie sehr unsere wissenschaftlichen Theorien eigentlich 'Ansichten' sind, die von einem jeweils eingenommenen Standpunkt innerhalb des Ganzen her erfolgen und deshalb auch auf bestimmten Annahmen und 'Glaubenssätzen' beruhen, die immer vor-läufig - im doppelten Wortsinn - und selbst nicht wissenschaftlich herleitbar sind, sondern aus einer kreativen Intuition entspringen. Allerdings sind diese Glaubenssätze nicht alle gleich: Manche eröffnen Möglichkeiten, manche andere verschließen sie. Der Glaube, dass die Raumgeometrie und nicht (nur) die Teilchenmasse an der Gravitation beteiligt ist, eröffnet neue Fragestellungen und neue Sichtweisen. Der Glaube, dass Gottes Hand die Welt nach einem unergründlichen Ratschluss lenkt, verschließt die Möglichkeit des Weiterfragens und -forschens.
Der folgende Abschnitt beleuchtet das Thema noch aus einem etwas anderen Blickwinkel und greift einige Gedanken (und Zitate) eines Vortrags auf, den Noam Chomsky 2011 an der Universität Oslo hielt: "The machine, the ghost, and the limits of understanding - Newton's contribution to the study of mind".
Wie uns die Welt abhanden kam
Für die mittelalterlichen Scholastik, von der Chomsky zu Beginn ausgeht, waren Sätze über die Welt wahr, wenn sie aus unanfechtbaren Prämissen nach der SyllogistikRegeln des logischen Schlusses des Aristoteles einwandfrei hergeleitet werden konnten. Diese Wissenschaft war deduktiv und sie versuchte, Prämissen zu finden, die man nicht bezweifeln konnte, etwa, weil sie in der Bibel standen. Dem Materiellen und den Beobachtungsdaten traute man nicht. Man verließ sich auf die Korrektheit der Schlüsse (und in gewisser Weise tun wir das, wie wir gleich sehen werden, heute wieder).
Mit Beginn der Neuzeit stellte sich dem nun in der sogenannten "scientific revolution" eine Sichtweise entgegen, nach der Sätze über die Welt wahr sind, wenn sie mit der Beobachtung übereinstimmen und sie erklären, d.h. angeben, wie das beobachtete Phänomen zustande kommt. (Man nennt das Induktion: der Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine, im Gegensatz zur Deduktion). Der Erklärungsanspruch war dabei so weitreichend, dass man davon ausging, das Universum - und auch der Mensch - seien Maschinen, deren Funktion umfassend erkannt, erklärt und verstanden werden kann. (z.B. Julien Offray de La Mettrie: "l'homme machine". Descartes war in seiner "res extensa" ebenfalls von dem Maschinenmodell ausgegangen).
Auch hier brauchte man natürlich Prämissen, versuchte aber, diese so sparsam wie möglich zu halten. Eine davon war, dass Maschinen funktionieren, indem sich ihre Teile physisch berühren und aufeinander einwirken. Alle Wirkungen müssen also lokal sein. (Zur Demonstration der Macht dieser neuen Weltsicht - aber natürlich auch zum Erstaunen und zur Ergötzung des Publikums - baute man mechanische Puppen, die Geige spielten, sich höflich verbeugten und dergleichen.)
Nun stieß aber Newton auf eine seltsame Kraft, die dem widersprach: die Gravitation. Sie lag Galileis Fallgesetzen ebenso zugrunde, wie den Gezeiten und den Umlaufbahnen der Planeten, wirkte über große Entfernungen und ohne, dass sich irgendetwas berührte, war also nicht-lokal. In ihrer Wirkung konnte sie hingegen, wie er in seinem Gravitationsgesetz zeigte, mathematisch zuverlässig und genau bestimmt werden.
Diese Kraft war für Newton selbst, wie für seine Zeitgenossen, eine völlige Absurdität. So etwas durfte es eigentlich überhaupt nicht geben. In einem Brief an Richard Bentley schrieb er:
That gravity should be innate inherent & {essential} to matter so that one body may act upon another at a distance through a vacuum without the mediation of any thing else by & through which their action or force {may} be conveyed from one to another is to me so great an absurdity that I beleive [sic] no man who has in philosophical matters any competent faculty of thinking can ever fall into it.
Er widerstand aber der Versuchung, dafür eine Erklärung zu finden, die notwendig einen der okkulten Begriffe der Scholastik enthalten hätte, und notierte vielmehr seinen berühmten Satz "Hypotheses non fingo" - ich erfinde keine Vermutungen.
Damit hatte unser Anspruch des umfassenden Verstehens eine sehr empfindliche Delle bekommen. Es gab Dinge, die wir nicht erklären konnten.
Gleichzeitig erwies sich jedoch noch etwas anderes: die Mathematik, die schon vorher, etwa bei Kepler und Galilei, eine große Rolle gespielt hatte, war zu einem universalen Werkzeug der Naturerkenntnis und des Verständnisses geworden. Sie konnte, wie Newton durch die Entwicklung der Differential- und Integralrechnung vorführte, zu diesem Zweck systematisch erweitert und angepasst werden.
In der Folge begannen wir, unseren Verständnis- und Erklärungsanspruch ab- und die Mathematik aufzubauen. Wir gewöhnten uns daran, das Unerklärliche als real und 'verstanden' anzusehen, solange wir seine Wirkung mathematisch beschreiben und experimentell bestätigen konnten.
So kam es dann, dass die Welt langsam verschwand. Sie wurde unanschaulich, gleichsam undurchsichtig für unsere Sinne und unseren common sense. Sukzessive löste sich sich auf in 'Felder' - deren Entsprechung in der Welt wir nicht kennen, die aber als mathematische Konstruktionen nützlich sind. Oder in elektromagnetische Wellen, die sich im Vakuum ausbreiten (was schwingt da dann? "Nichts"). Oder in quantentheoretische Unbestimmtheiten, Verschränkungen und Superpositionen. Oder, schließlich, in die prinzipiell nicht mehr beobachtbaren 'Strings'. - In der Kosmologie findet, nebenbei bemerkt, ganz Ähnliches statt. - Dabei geht es nicht mehr darum, die Welt zu ergründen, sondern darum, die Vereinbarkeit von bestimmten Theorien über die Welt zu untersuchen. Wir sind, sagt Chomsky, dazu übergegangen, an Stelle der Welt unsere Theorien und Modelle über sie zu verstehen.
Es scheint fast, als schlösse sich der Kreis: vielleicht sind wir beinahe wieder da, wo wir als Scholastiker schon einmal waren, nur dass an die Stelle der scholastischen Prämissen nun die mathematischen getreten sind. Unterstützt und gleichzeitig verschleiert wird das dadurch, dass die Berechnung der Wirkungen in vielen Fällen großartig funktioniert und zu einer gewaltigen technischen Entwicklung geführt hat.
Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände. Damit diese Forderung überhaupt erfüllbar sei, müssen gewisse Übereinstimmungen vorhanden sein zwischen der Natur und unserem Geiste. Die Erfahrung lehrt uns, daß die Forderung erfüllbar ist und daß also solche Übereinstimmungen in der That bestehen. Ist es uns einmal geglückt, aus der angesammelten bisherigen Erfahrung Bilder von der verlangten Beschaffenheit abzuleiten, so können wir an ihnen, wie an Modellen, in kurzer Zeit die Folgen entwickeln, welche in der äußeren Welt erst in längerer Zeit oder als Folgen unseres eigenen Eingreifens auftreten werden; wir vermögen so den Thatsachen vorauszueilen und können nach der gewonnenen Einsicht unsere gegenwärtigen Entschlüsse richten. Die Bilder, von welchen wir reden, sind unsere Vorstellungen von den Dingen; sie haben mit den Dingen die eine wesentliche Übereinstimmung, welche in der Erfüllung der genannten Forderung liegt, aber es ist für ihren Zweck nicht nötig, daß sie irgend eine weitere Übereinstimmung mit den Dingen haben. In der That wissen wir auch nicht, und haben auch kein Mittel zu erfahren, ob unsere Vorstellungen von den Dingen mit jenen in irgend etwas anderem übereinstimmen, als allein in eben jener einen fundamentalen Beziehung.
Hertz ist in seinen Formulierungen außerordentlich genau. Er behauptet deswegen auch nicht, dass es sich hier, wie es oft interpretiert wird, um eine Höherentwicklung des physikalischen Denkens und um eine 'Überwindung' der alten mechanistischen Position handelt, sondern benennt diese immer noch existierende Grenze im letzten Satz des Zitates sehr klar. Im Weiteren führt er aus, dass die Beziehung von (mathematischem) Bild und (physikalischem) Gegenstand nicht mehr eindeutig ist; es kann mehrere solcher Bilder (bzw. Modelle oder Theorien) geben, mithin auch eine Vorläufigkeit und Jeweiligkeit.
Nun tritt noch folgendes hinzu: Eigenschaften in Objektklassen sind gekennzeichnet durch einen Bereich (scope) und eine Grenze (limit). Beides hängt natürlich eng zusammen und die strukturelle Differenziertheit beruht darauf. Die Größe eines Menschen hat einen bestimmten Bereich und damit auch bestimmte Grenzen; alle seine 'Bauteile' müssen in einem ganz bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Ein Pferd kann nicht wissen, was eine Primzahl ist. Das ist außerhalb seines kognitiven Bereichs und also jenseits seiner Grenze. In der 'Maschinenphilosophie', und oft auch heute noch, gehen wir jedoch davon aus, dass unsere eigenen kognitiven Fähigkeiten, unsere Erkenntnismöglichkeiten, unbegrenzt sind. Wenn aber für unsere kognitiven Fähigkeiten dasselbe gilt, wie für unsere sonstigen Eigenschaften, dann gibt es wirklich ein "Ignorabimus", etwas, das wir grundsätzlich nicht erkennen und verstehen können, weil es außerhalb unseres kognitiven Bereichs liegt. Wir können dann, so Chomsky, nicht einmal die richtigen Fragen stellen. Aber wir können - und hier kommt das Wunderbare und Einzigartige des Menschen - dieses über uns selbst herausfindenSeine mathematische Entsprechung hat das in den Gödelschen Unvollständigkeitssätzen. S. Kap. 'Selbstreferenz'. Wir können, wie schon Sokrates sagte, tatsächlich wissen, dass wir nicht wissen.
So hat Newton eine ungeheure Erweiterung der Physik bzw. der Mathematik innerhalb unseres kognitiven Bereiches und gleichzeitig unsere eigene Grenze formuliert. Der große Materialist und Skeptiker David Hume(1778, History of England, Vol VI, p.542) schrieb bewundernd über ihn:
While Newton seemed to draw off the veil from some of the mysteries of nature, he shewed at the same time the imperfections of the mechanical philosophy; and thereby restored her ultimate secrets to that obscurity, in which they ever did and ever will remain.
Erst nach über 200 Jahren gelang ein Vorschlag zur Lösung des Rätsels, indem Albert Einstein in seiner allgemeinen Relativitätstheorie die Schwerkraft als eine Eigenschaft des Raumes selbst ansah, der sich in Gegenwart von Massen einkrümmt, so dass gekrümmte Bahnen entstehen (wie etwa die Umlaufbahnen). Aber es bestehen weiterhin Fragen, die dem Newtonschen Rätsel gleichwertig sind, beispielsweise die, was denn da eigentlich schwingt, wenn sich elektromagnetische Wellen im Vakuum, also ohne schwingendes Medium ausbreiten.