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Reduktionismus

Das naturwissenschaftliche Vorgehen sucht nach Ursachen und versucht, die Dinge auf ihre Bestandteile zurückzuführen und sie so vorhersagbar zu machen. So wird beispielsweise ein physiologisches Ereignis auf biochemische Vorgänge zurückgeführt. Die biochemischen Vorgänge kann man dann ihrerseits wieder auf allgemeine chemische, und diese auf physikalische zurückführen, so dass möglichst viele der auf einer Ebene beobachteten Phänomene auf möglichst einfache 'Naturgesetze' zurückgeführt werden können. Man nennt dieses Vorgehen Reduktionismus. Es gehört zu den - häufig unhinterfragten - Grundbausteinen naturwissenschaftlicher Tätigkeit und lässt sich in einer aufsteigenden Anordnung wissenschaftlicher Disziplinen darstellen:

Geisteswissenschaften,
Politologie, Soziologie,
Psychologie
Physiologie
Biochemie
Chemie
Makrophysik
Mikrophysik

Die Psychologie markiert den Übergang von den Natur- zu den Geisteswissenschaften. Sie hat an beidem Anteil. In ihren natur­wissenschaftlichen Bereichen, zu denen auch die neuere Hirnforschung zählt, ist sie die letzte der Grundlagenwissenschaften, die sich aus der Philosophie herausgebildet und von ihr abgetrennt haben. Bei der Physik geschah das schon viel früher, aber noch Isaac Newton gab 1686 seinem ersten großen Werk den Titel "Philosophiae naturalis principia mathematica" - die mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie.

Wissenschaftliche Erklärungen müssen dabei eine gewisse Nähe zu den zu erklärenden Phänomenen haben. Es ist zum Beispiel nicht sehr erhellend, ein soziales Ereignis physikalisch herleiten zu wollen, obwohl das in einen konsequenten reduktionistischen Modell prinzipiell möglich sein muss. Tatsächlich führen wir die vollständige Reduktion so gut wie nie durch, sondern halten jeweils eine oder zwei Ebenen weiter unten an. Z.B. erklären wir psychische Prozesse durch neuronale Aktivität. Die Neuronen selbst lassen wir aber als sozusagen ganzheitliche Angenzien stehen und reduzieren sie (in der Regel) nicht auf Atome und Moleküle. Es erhebt sich sofort die Frage, wieso wir dann nicht psychische Prozesse selbst auch als solche Agenzien einfach stehen lassen. Eine Antwort wäre, dass wir alles bis mindestens zur ersten materiellen Ebene zurückführen müssen. Da geht aber die - nicht weiter begründbare - Grundannahme ein, dass es außer dem Materiellen nichts Eigenständiges geben darf. Als Laplacescher Dämonnach dem französischen Mathematiker Pierre-Simon de Laplace (1749-1827) wurde in dem materiellen Modell die Vorstellung bezeichnet, dass sich in einem völlig determinierten Universum sämtliche zukünftigen Zustände aus der Kenntnis der physikalischen Anfangsbedingungen berechnen ließen. In einem solchen Universum wären die Anfangsbedingungen hinreichend - und nicht nur notwendig - für alle folgenden Zustände. Das Universum wäre in seinem Verlauf geschlossen und die Zukunft für alle Zeiten vorherbestimmt.

Im mikrophysikalischen Bereich tritt nun auf einmal das merkwürdige Phänomen auf, dass die strikte Trennung zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten (die sog. Subjekt-Objekt-Trennung) nicht mehr aufrechterhalten lässt, ähnlich wie es in Teilbereichen der Psychologie der Fall ist. So stellt man z.B. bei quantenphysikalischen Experimenten fest, dass bestimmte Ereignisse nur stattfinden, wenn und weil sie beobachtet werden. Nun könnte man sagen: natürlich finden experimentelle Ereignisse nur statt, wenn und weil ein Experiment gemacht wird; und alles, was bestimmt wird, wird durch Messung bestimmt.

Hier liegt der Fall aber noch etwas anders. Normalerweise gehen wir nämlich von einem 'cartesischen' Beobachter aus, einem auf René Descartes1596-1650 zurückgehenden dualistischen Modell, demzufolge der Beobachter vom Beobachteten nicht nur getrennt, sondern isoliert ist.

Das heißt, dass die beobachteten Ereignisse ganz genau so ablaufen würden, wenn sie nicht gemessen würden, und wir verlassen uns z.B. darauf, dass die Sonne auch aufgeht, wenn wir nicht hinschauen (obwohl bereits ein irischer Bischof namens George Berkeley(1685-1753). Die Antwort (für diese Formulierung) ist übrigens 'nein'. Denn der Begriff 'Geräusch' setzt 'Hören' bereits voraus. die berühmte Frage stellte, ob ein fallender Baum ein Geräusch mache, wenn niemand da wäre um es zu hören).

Anders im Falle der quantenphysikalischen Beobachtung. Hier (und im naturwissenschaftliche Kontext zunächst nur hier) zeigt sich, dass wir nicht mehr scharf zwischen dem Zustand des Objekts und seiner Beobachtung unterscheiden und daher durch die Beobachtung/Messung keine vorher existierenden Phänomene und also keine Ursachen mehr feststellen können, weil der Vorgang der Beobachtung selbst sozusagen zur Ursache wird.

Siehe dazu z.B.:
Atmanspacher, H. (2000): Quantenphilosophie.
Zeilinger, A. (1997): On the Interpretation and Philosophical Foundation of Quantum Mechanics.

Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass sich die Esoterik-Szene auf diese und andere quantenphysikalische Besonderheiten, die ja eigentlich zunächst eine Grenze unserer Erkenntnis andeuten, freudig gestürzt und sie zu 'Quanten-Selbsts', 'unlimitierten Potentialen' und einer Wunscherfüllungsideologie aufgeblasen hat, nach der nun endlich bewiesen sei, dass wir alles erreichen können und uns die Welt nach unserem Gusto zusammenbauen können, wenn wir nur wollen. Das hat aber weder etwas mit Wissenschaft noch mit Spiritualität zu tun. Auch die Verwendung der Quantenphysik zur 'Erklärung' des Bewusstseins erscheint zumindest voreilig. Der Physiker Henry Stappin einem Konferenzbeitrag 2011. (Auf den Verweis klicken: youtube.com merkte dazu einmal ironisch an, wir verstünden weder die Quantenphysik noch das Bewusstsein, also müssten diese beiden wohl etwas miteinander zu tun haben.

Eine andere Form der Reduktion ist die rein zeitliche Regression: Wir erforschen, was einem Zustand jeweils vorausgeht und gelangen - in der Kosmologie - an einen hypothetischen Anfang, hinter den wir nicht zurückgehen können: den sogenannten Urknall. Dort hören unsere Erkenntnismöglichkeiten auf, weil es kein 'davor' mehr gibt und auch sonst keine unserer wissenschaftlichen Fragen noch irgendeinen Sinn hat.

In einer bestimmten Weise geschieht genau das auch in dem Moment und an der Stelle, in der wir Gott in die wissenschaftliche Betrachtung einführen: auch dahinter können wir nicht mehr zurückgehen; keine unserer wissenschaftlichen Fragen ist mehr sinnvoll.

Und wenn wir, wie es die Lehre des 'Kreationismus' tut, Gott schon ganz am Anfang in die Wissenschaft einführen, indem wir annehmen, dass er die Erde vor 6000 Jahren an sechs Tagen geschaffen hat, dann ist die Wissenschaft bereits an ihrem Anfang zu Ende - denn es gibt eigentlich nichts mehr herauszufinden, sondern nur noch zu bestätigen, dass es eben so war.

In der Wissenschaft zeigt die bestätigende Evidenz, dass eine Theorie im Lichte dieser Evidenz nicht falsch ist, es aber durch jede neue Evidenz werden könnte. Wir verlangen deshalb von einer wissenschaftlichen Theorie, dass sie prinzipiell widerlegbar (falsifizierbar) ist und suchen experimentell nach falsifizierender EvidenzDie bahnbrechenden Arbeiten dazu stammen von Karl Popper..

Ganz im Gegensatz dazu soll die Evidenz in der Para- und Pseudowissenschaft (also Esoterik, Intelligent Design, etc.) zeigen, dass eine Theorie nicht falsch sein kann, dass also die Theorie nicht widerlegbar und eine falsifizierende Evidenz ausgeschlossen ist. Darin liegt das Unredliche.

Das dem Reduktionismus entgegengesetzte Prinzip ist der Holismus und die sogenannte Emergenz: Aus Elementen entstehende Einheiten haben manchmal Eigenschaften, die ganz anders sind als die der Elemente und sich aus ihnen auch nicht immer vorhersagen lassen. Solche neu entstehenden Eigenschaften nennt man 'emergent'. Emergenz ist, was aus der Physik die Chemie, aus der Chemie die Biochemie, aus der Biochemie die Physiologie und aus der Physiologie die Psychologie macht.

Der Begriff der Emergenz hängt also mit der 'Übersummativität' von Systemen zusammen ("Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile"): Aus der Zusammenstellung der Teile zu einem Ganzen (griechisch sy-stemein= zusammen-stehen) ergeben sich Eigenschaften des Ganzen, die aus den Eigenschaften der Teile nicht vorhersagbar sind (obwohl sie ohne diese Teile natürlich nicht bestünden).
Das Konzept hat furore gemacht.
Es gibt diese Malbücher, wo auf einer Seite viele Punkte sind, die z.B. den Umriß eines Tieres wiedergeben (Aufgabe für die Kinder ist, die Punkte zu verbinden, aber die Gestalt ist meist auch ohne diese Verbindung deutlich zu erkennen). Da hat das Ensemble der Punkte durch seine Anordnung eine Eigenschaft ("elefantenähnlich"), die die einzelnen Punkte nicht haben und die ohne die Punkte ebenfalls nicht bestünde. Diese Eigenschaft ist emergent.
Das ist aber, wie hoffentlich bereits aus dem Beispiel deutlich wird, nichts besonderes.

Emergenz sagt eigentlich nur, daß Systemeigenschaften, wie z.B. die Gestalteigenschaften, sich selbstverständlich nur bei Systemens. dazu die Glosse: 'Systeme' auf Psyon/Texte (diesen Verweis anklicken) und nicht bei ihren Elementen finden, obwohl die Systeme ohne ihre Elemente (ebenso selbstverständlich) nicht bestünden. Wir wundern uns, daß wir 'Es' nirgends finden, wenn wir alles auseinandernehmen, und wundern uns dann (und nur dann!), daß 'Es' im Zusammengesetzten und Unversehrten 'emergiert'.

Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist heraus zu treiben,
Dann hat er die Teile in seiner Hand,
Fehlt, leider! nur das geistige Band. (Faust I, Schülerszene)

Das "Wunderbare" am Holismus entspringt also der reduktionistischen Grundhaltung (was ja z.B. auch WilberKen Wilber (1995): Sex, Ecology, Spirituality. Dt: Eros, Kosmos, Logos. Frankfurt: Krüger, 1996. dementsprechend kritisiert).

Noch andersvgl. dazu ausführlicher: Heinzmann, H. (2007): Über Willensfreiheit und das Verhältnis von Geist und Materie. formuliert: Emergenz ist eigentlich die Selbstvernichtung des (vollständigen) Reduktionismus. Wenn nämlich etwas emergiert, ist es offensichtlich durch Reduktion erst einmal verloren gegangen. D.h. die Bestimmung der Welt durch Reduktion ist mindestens insoweit unvollständig, als dabei eben etwas verloren geht. Wenn wir also annehmen, dass die Betrachtung der unteren - reduzierten - Ebene alle kausalen Zusammenhänge für die obere liefert, dann darf es keine Emergenz geben. Gibt es sie doch, ist die reduktionistische Kausalität unzureichend und es müssen Faktoren existieren, die entweder auf derselben Ebene liegen wie das zu Beschreibende oder sogar auf einer höheren.

Wenn die vollständige Erklärung psychischer Prozesse durch neuronale möglich wäre, dann wäre die psychologische Erfoschung von Einflüssen der psychischen Prozesse aufeinander unsinnig. Manche Naturwissenschaftler hätten mit dieser Aussage vielleicht kein Problem, bis ihnen auffiele, dass das natürlich für alle Ebenen gilt, auch für die Neurobiologie selbst, die Biochemie, die Physik und vor allem für die Mathematik als einer systematischen Interaktion psychischer Vorgänge.

Die Wirksamkeit der Psychotherapie - und, allgemeiner gesprochen, die Tatsache, dass man jemanden durch Worte beruhigen oder aufregen kann - zeigt beispielhaft, dass hier erstens eine Interaktion von psychischen Prozessen als solchen stattfindet und zweitens psychische Prozesse kausal in die untergeordnete neuronale Ebene eingreifen. Es gibt also zusätzlich zur (naturwissenschaftlichen) Kausalität von unten auch eine von oben, die in einem reduktionistischen Modell nicht abbildbar ist.

Die reduktionistisch gefundenen Naturgesetze beschreiben, was möglich und was unmöglich ist. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik etwa besagt, dass die Energie eines geschlossenen Systems unveränderlich ist. Es ist nicht möglich, etwas wegzunehmen oder hinzuzufügen. Energie kann im System transportiert und in verschiedene Zustände umgewandelt werden (elektrische Energie, Wärmeenergie, usw.), aber nicht erschaffen oder vernichtet. Die Naturgesetze schreiben also nicht vor, was existiert, sondern nur, was existieren kann. Es ist lediglich gefordert, dass das Existierende den Naturgesetzen nicht widerspricht.

Für die Existenz der jeweiligen Dinge treten nun Kausalfaktoren hinzu, die nicht reduktionistisch ableitbar sind (z.B. Strukturgesetze, die angeben, wie die Gesamtstruktur eines Objekts seine Wirkungsweise bestimmt). Der Astrophysiker George Ellis führt eine ganze Reihe solcher top-down Ursachen an. Ich will mich auf zwei Beispiele beschränken:
• Ein Thermostat ist Teil eines einfachen Temperaturregelkreises. Regelkreise sind nicht-lineare Anordnungen, in denen eine Wirkung selbst wieder zur Ursache wird. Der Zustand des Thermostats wird durch die Raumtemperatur bewirkt und wirkt seinerseits wieder auf sie zurück. Regelkreise sind im Bereich des Lebendigen und der Technik allgegenwärtig.
• Der Bauplan eines Architekten ist ein geistiges Produkt, das in Form einer Zeichnung auf Papier oder als Datei auf einem Computer realisiert ist. (Diese Realisierungen sind nicht der Plan selbst, sondern nur seine Darstellungen.) Der Plan ist kausal für die Entstehung eines Hauses, das als physikalisches Objekt einer niedrigeren Stufe angehört und in seiner konkreten Existenz nicht vollständig aus den untergeordneten Ebenen hergeleitet werden kann.

In einem Essay in der Zeitschrift Nature Ellis, G.F.R. (2005): Physics, complexity and causality. Nature Vol. 435, p.743führt Ellis aus:

[...] higher levels in the hierarchy of complexity have autonomous causal powers that are functionally independent of lower-level processes.
[...] physics per se cannot causally determine the outcome of human creativity; rather it creates the 'possibility space' to allow human intelligence to function autonomously.

Aus dieser Perspektive betrachtet widerspricht auch die Annahme eines Schöpfers, der die Welt - etwa beim Urknall - so geschaffen hat, wie wir sie vorfinden, keinem der bekannten Naturgesetze. (Die Annahme hingegen, dass das vor 6000 Jahren an sechs Tagen geschah, steht im Widerspruch zu einigen Naturgesetzen und ist deshalb einfach falsch.) Die Existenz eines Schöpfers kann durch die reduktionistische Vorgehensweise weder widerlegt noch bestätigt werden. Sie gehört schlicht und einfach nicht zu deren Gegenstandsbereich. Einen Atheismus reduktionistisch zu begründen, ist ebenso befremdlich wie die Forderung, dass etwas, nur weil es komplex ist, auch geplant sein müsse.

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