Garten

Willensfreiheit

Im Zuge der Diskussionen um neuere Erkenntnisse der Neurobiologie und der Hirnforschung ist auch das Thema 'Willensfreiheit' wieder in den Brennpunkt getreten. Viele Neurobiologen leugnen die Willensfreiheit mit dem Argument, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass es so etwas nicht gebe.

Berufen können sie sich z.B. auch auf Arthur Schopenhauer, der in seinem Hauptwerk ('Die Welt als Wille und Vorstellung') und speziell in seiner 'Preisschrift über die Freiheit des Willens'Schopenhauer, Arthur (1839): Preisschrift über die Freiheit des Willens. In: Sämtliche Werke, Bd.III. Frankfurt, Suhrkamp, 1986. ausführte, dass es zwar einen Willen gebe, dieser aber nicht frei sei, sondern in jedem einzelnen Willensakt bestimmt von vielerlei Motiven und Charaktereigenschaften des Wollenden. Nur der 'transzendente Wille', der sich in allem manifestierende "Wille zum Leben", sei frei -aber auch blind und ziellos.

Max PlanckMax Planck [1858-1947]: Vorträge, Reden, Erinnerungen. (Hg. von Hans Roos und Armin Hermann). Berlin, etc.: Springer, 2001. befasste sich in Vorträgen mehrfach mit dem Thema Willensfreiheit. Seine außerordentlich klare Argumentation lässt sich etwa folgendermaßen zusammenfassen:

Das Gesetz der Kausalität gilt überall, also auch auf den freien Willen bezogen. Eine 'freie' Willensentschiedung wird von kausalen Faktoren determiniert und ist im Nachhinein, -also als vergangene Entscheidung- auch auf solche Faktoren zurückführbar. Das tun z.B. die Historiker, und selbst wenn man einräumt, dass vielleicht die Kenntnis aller dieser Faktoren praktisch nicht erreicht werden kann, so gibt es doch keinen Grund, anzunehmen, dass es nicht möglich ist.

Anders sieht es aus, wenn man seine eigenen gegenwärtigen oder zukünftigen Willensakte in dieser Weise kausal zu bestimmen und vorherzusagen versucht. Das ist prinzipiell unmöglich, denn durch die Bestimmung selbst treten immer neue Faktoren hinzu, welche den Willensakt beeinflussen.

Die Entscheidungen eines anderen Menschen könnten von einem hinreichend informierten und intelligenten Beobachter aber im Prinzip durchaus vorhergesagt -und dadurch als kausal verursacht validiert- werden, obwohl sie diesem Menschen selbst als völlig frei erscheinen und es von seiner subjektiven Warte aus nach dem oben Gesagten auch tatsächlich sind.

Es ergibt sich, dass der freie Wille als Erlebnistatbestand (subjektiv) genau so gewiss existiert, wie er als Tatbestand der Beobachtung (objektiv) nicht existiert - genau wie umgekehrt die Farbe Ultraviolett objektiv so gewiss existiert wie sie subjektiv nicht existiert. Die Vermengung dieser beiden gleichwertigen Kontexte führt zu den Schwierigkeiten, die man mit dem Konzept des Freien Willens hat.

Planck schreibtMax Planck (1946): Scheinprobleme der Wissenschaft. In: Vorträge, Reden, Erinnerungen. (Hg. v. Hans Roos und Armin Hermann.) Berlin, Heidelberg, etc.: Springer, 2001.:

Von außen betrachtet ist der Wille kausal determiniert, von innen betrachtet ist der Wille frei. Mit der Feststellung dieses Sachverhalts erledigt sich das Problem der Willensfreiheit. Es ist nur dadurch entstanden, dass man nicht darauf geachtet hat, den Standpunkt der Betrachtung ausdrücklich festzulegen und einzuhalten.

Der objektive Kontext kann die Freiheit nicht erklären, der subjektive nicht die kausale Determiniertheit.
Wer die Freiheit des Willens leugnet, leugnet den Erlebnistatbestand; wer die kausale Bestimmung des Willensaktes leugnet, leugnet den Beobachtungstatbestand.

Das Strafrecht, beispielsweise, folgt als gesellschaftliche, ethische und semiotische Disziplin dem Erleben, setzt also den freien Willen voraus und beurteilt die sich daraus ergebende Verantwortlichkeit des erwachsenen Menschen für seine Handlungen. Die Neurobiologie folgt, im Gegensatz dazu, als Naturwissenschaft der kausalen Determiniertheit, in der die erlebte Freiheit keine Rolle spielt.

Betrachten wir die Sache noch unter einem anderen Gesichtspunkt:

Wenn ich einen (perfekten) Bleistift auf einer (perfekten) Unterlage auf die Spitze stelle, dann wird er, je feiner er einjustiert ist, auf immer feinere Veränderungen seiner Umgebung reagieren und je nach diesen Veränderungen in die eine oder andere Richtung kippen. Bei einer 'perfekten' Justierung wird er empfindlich für jede Veränderung im gesamten Universum. Er ist dann sozusagen mit dem Universum verbunden, bzw. besser gesagt, die Verbindung wirkt sich aus, existieren tut sie immer.

Je genauer nun dieser Bleistift justiert ist, desto weniger können wir vorhersagen, in welche Richtung er fallen wird. Wenn wir ihn sehr ungenau justieren, so dass er sichtbar in eine Richtung hängt, dann können wir auch genau vorhersagen, in welche Richtung er fallen wird.

(Das ist im Grunde die Kernaussage der Theorie des sogenannten deterministischen Chaos: der Bleistift ist in jedem Fall vollständig determiniert, aber wir können bei genauer Justierung (d.h. infinitesimaler Variation der Anfangsbedingung) keine Voraussagen mehr treffen; er verhält sich 'frei', unvorhersagbar und deshalb im technischen Sinne 'chaotisch'.)

Der Bleistift wird aber auf jeden Fall umkippen, wenn er nicht gestützt wird. Dass er von selbst stehen bleibt, ist so extrem unwahrscheinlich, dass wir das nie beobachten werden (s. dazu Thermodynamik). Er wird immer die wahrscheinlichere Position einnehmen und in ein liegendes stabiles Gleichgewicht übergehen.

Auf unserer Fingerspitze können wir diesen Bleistift aber balancieren, so dass er tatsächlich nicht umfällt. Dazu machen wir kleinste korrigierende Bewegungen, welche die Umwelteinflüsse kompensieren. (Dafür muss Energie aufgewendet werden; das System muss also aus der Umwelt Energie aufnehmen; es darf nicht geschlossen sein.)

So, könnte man sagen, funktioniert Leben. Die lebendige Materie stabilisiert sich dynamisch durch ihre Funktion (ihr Verhalten) und verhindert, dass sie zerfällt.

Auch das lebendige Gehirn funktioniert so. Die komplizierte materielle Ordnung dort hat eine Tendenz, in einen thermodynamisch wahrscheinlicheren Zustand überzugehen, also zu zerfallen. Das wird durch ihre Tätigkeit verhindert, die, wie unsere Fingerspitze, diese Ordnung balanciert und in einem Gleichgewicht hält. ("Use it or lose it" lautet einer der Kernsätze der Hirnforschung.) Darin ist aber, wie bei dem Bleistift, ein determiniert-chaotisches Element enthalten, und vielleicht ist es dieses Element, was einem naturwissenschaftlich fassbaren Korrelat des freien Willen am nächsten kommt.

- Sofort gibt es aber wieder eine Verwicklung: Beim Lebendigen ist nämlich der Bleistift und die Fingerspitze dasselbe...

eingang ausgang inhalt