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Hirnforschung

Das Gehirn untersucht sich selbst. Es ist vielleicht die letzte große Aufgabe der Wissenschaft.
Wenn man das Gehirn einfach als ein Organ wie jedes andere betrachtet, kann man seine Funktionen auch genau so erforschen wie etwa die Funktion des Herzens oder der Leber. Der Umstand aber, dass das Gehirn nicht nur dasjenige ist, was erforscht wird, sondern, im Unterschied zu Herz oder Leber, auch dasjenige, womit erforscht wird, macht diese Forschung einzigartig.

Als ein Organ kennen wir das Gehirn bereits sehr gut. Wir haben seine Teile und Areale sowie viele ihrer Funktionen identifiziert. Auch die hauptsächlichen Nervenverbindungen, die Zelltypen, die Reizleitung, die synaptische Übertragung und viele andere elektrochemische Prozesse sind schon seit längerem bekannt.

Die moderne Hirnforschung liefert nun aber fast so etwas wie eine neue Grundlage für die Psychologie. Zum ersten Mal kann man auf etwas zeigen, und zwar nicht nur auf ein totes anatomisches Hirnpräparat, oder ein psychologisches Konzept, sondern auf etwas lebendig Funktionierendes. Auf einmal ist etwas ganz Konkretes da, es kann darauf gezeigt werden. Die Psychologie ist nicht mehr ganz so abstrakt. Und wir, auch als Wissenschaftler, sind fasziniert davon, etwas zu haben, auf das man konkret zeigen kann.

Außerdem ergeben sich aus der Beobachtung von konkreten lebendigen Funktionszusammenhängen jede Menge neuer Forschungshypothesen. Da gibt es auf einmal Stoff für Tausende von Diplom- und Doktorarbeiten. Aus den beobachteten Funktionszusammenhängen, den lebendigen Prozessen und Strukturen, ergeben sich immer neue Fragestellungen. Es ist fast wie ein Neubeginn der Psychologie. Auch was wir schon wissen, wird jetzt in dem neuen Modell noch einmal anders und irgendwie konkreter verständlich. Nicht dass dadurch die bisherigen Sichtweisen erledigt sind, aber es tritt eine neue hinzu, die bisher in dieser Form nicht zur Verfügung stand.

Auch die Entstehung psychischer Störungen und ihre Therapie verstehen wir in dem neuen Modell besser und es gibt schon jetzt eine enge Verzahnung von Hirnforschung und Psychotherapie. Leider ist aber auch in dieser Suppe ein Haar, und es gibt eine Grenze, über die wir nicht hinausgelangen können.

In der neueren Hirnforschung wird nämlich versucht, auch das Erleben in seinen Einzelheiten - die sogenannten Qualia - als Resultat dieser Hirnfunktionen zu bestimmen und vorhersagbar zu machen. Erst hier wird es bedeutsam, dass das Gehirn sich selbst untersucht:

M.C.Escher: Bildgalerie. Lithographie, 1956. In M.C. Eschers "BildgalerieM.C.Escher: Bildgalerie. Lithographie, 1956.
(All M.C. Escher works ©2007 The M.C. Escher Company - the Netherlands. All rights reserved. Used by permission. www.mcescher.com)
" betrachtet ein junger Mann ein Bild in einer Galerie. Auf dem Bild befindet sich auch die Galerie, in der es selbst hängt. Sie wölbt sich aus dem Bild sozusagen in die Wirklichkeit, so dass wir (der junge Mann als Betrachter) gleichzeitig von hinten auf uns selbst schauen und uns beim Betrachten des Bildes betrachten.
Exakt in der Mitte des Bildes aber gibt es den weißen Fleck, das Mysterium. Hier findet der Übergang statt. Man kann diesen Fleck theoretisch beliebig klein machen, aber man kann ihn nie ganz auffüllen, weil das in einen infiniten Regress führt. Das Mysterium bleibt.

So können wir auch in der Hirnforschung - sozusagen in den Außenbereichen des Bildes - wertvolle Erkenntnisse über die Funktionen des Gehirns gewinnen: von innen im Erleben und Beobachten des eigenen Erlebens; hauptsächlich aber von außen, indem wir durch Messung und experimentelle Beobachtung den Betrachter betrachten.

Wichtig ist dabei, dass wir, wie der Neurobiologe Georg Northoff einmal bemerkte, die subjektiv-phänomenale Beschreibung der Versuchspersonen von ihren Erlebnissen und psychischen Zuständen brauchen, weil wir sonst als von außen beobachtende Wissenschaftler blind sind. Denn wir wissen zuächst nicht, was unsere Messung bedeutet. Ein stark erhöhter Blutdruck kann ohne eine solche Schilderung des Patienten gemessen und eingeordnet werden, nicht aber die Vorgänge im Gehirn.

Doch je näher wir dem 'Zentrum' kommen, desto mehr nähern wir uns auch hier dem weißen Fleck, der Stelle, an der sich unsere Wirklichkeit, zu der auch das Gehirn gehört, aus der Betrachtung durch eben dieses Gehirn hervorwölbt. Und auch hier bleibt das Mysterium. (Im einfachsten Fall würden wir feststellen, dass die Erkenntnisse über das Gehirn dieses Gehirn verändern und wiederum der Erklärung bedürfen, so dass wir auch hier in einen infiniten Regress geraten.)

Die Hirnforschung wird also, ähnlich wie die Physik, im Laufe ihrer Entwicklung sehr viel praktisch Brauchbares zutage fördern, aber es sieht so aus, als würde auch hier etwas vom Geheimnisvollen bleiben.

Die Anzahl der Nervenzellen in einem Menschenhirn wird auf mindestens 100 Milliarden geschätzt. Jede Zelle hat im Schnitt Verbindungen zu ca. 10.000 anderen. Die Zahl der möglichen(!) synaptischen Verbindungen im Gehirn ist um einiges größer als die Zahl sämtlicher Atome im Universum. Der Physiker Emerson Pugh schrieb einmal: "Wenn unser Gehirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir selbst so einfach, dass wir es nicht könnten." In der Tat gibt es, außer dem bereits skizzierten, noch andere Probleme: ein messtheoretisches und ein (weiteres) philosophisches. Auf die messtheoretische Schwierigkeit habe ich im Kapitel Naturwissenschaft bereits hingewiesen: Normalerweise werden in den sogenannten bildgebenden Verfahren der Hirnforschung Perfusions- oder Oxygenierungsmessungen durchgeführt, also die Bestimmung des - verstärkten oder verminderten - Blutflusses bzw. dessen Sauerstoffgehalts in den zu untersuchenden Hirnarealen. Weil sowohl die untersuchten Areale als auch die zu bestimmende Blutmenge sehr klein sind, haben wir durch 'Umgebungsrauschen' einen sehr kleinen Signal-Rauschabstand, d.h. das Signal ist im Rauschen nur schwer zu entdecken. Wie in der Hochenergiephysik brauchen wir dafür extrem komplexe mathematische Filter und andere Prozeduren. Wenn die nicht genau stimmen, erhalten wir unsinnige Resultate, wie in der berühmten Studie von Bennett et al. (2009), die einen toten Lachs untersuchten und ihn aufforderten, auf Fotos von menschlichen Gesichtern deren Gefühlszustand einzuschätzen. Sie erhielten deutliche Messergebnisse und kamen in der kritischen Würdigung zu dem ernüchternden Schluss, dass wahrscheinlich ein nicht unbeträchtlicher Prozentsatz 'ernster' Studien an derselben mathematischen Nachlässigkeit krankt, die auch ihre Ergebnisse hervorbrachte.

Das zweite Problem ist das Leib-Seele-Problem, das in der Philosophiegeschichte eine so eminente Rolle spielt und in der Hirnforschung auf ein Gehirn-Geist-Problemvgl. dazu und zum Folgenden: Kutschera, F.v. (2002): Vom Himmel gefallen. Geist und Gehirn. 4,2002, 56-61 reduziert wurde. Dadurch wird es aber nicht leichter lösbar. Die philosophischen Schwierigkeiten bleiben - auch wenn die Reduktion vielleicht heuristische Vorteile hat.

Wenn wir etwas Psychisches von etwas Physischem unterscheiden - also etwa das Erleben der Farbe 'rot' von ihrer physikalischen Beschreibung (elektromagnetische Strahlung der Wellenlänge ≈620nm) - und darüber hinaus fordern, dass der Bereich physikalischer Beschreibungen kausal geschlossen sein muss, also in ihnen nichts Nicht-Physikalisches vorkommen darf, dann haben wir das Problem, dass wir nicht mehr angeben können, wie das Psychische mit dem Physischen wechselwirkt.

Dasselbe Problem haben wir auch, insoweit wir uns als Wissenschaftler in der Rolle des außenstehenden Beobachters sehen, welcher der physikalischen Determiniertheit selbst nicht unterliegt, dessen Verhalten also Gründe hat anstatt Ursachen. Sonst wäre nämlich die wissenschaftliche Beobachtung eine Farce, in der ein determiniertes System ein anderes beobachtet, ähnlich wie ein Sensor an einer Maschine. Als Beobachter sind wir also in einem wesentlichen Sinne psychisch, d.h. nicht-physikalisch, und können nicht mehr angeben, wie unser eigenes forschendes Verhalten in den Kontext der physikalischen Geschlossenheit passt.

Das Problem ist die "explanatorische Lücke", die unter den genannten Bedingungen entsteht. Man kann sie schließen, indem man voraussetzt, dass Psychisches und Physisches nicht unterschieden werden können, oder dass es das Psychische (oder das Physische) als eigenständigen Bereich nicht gibt, sondern nur als Teil des jeweils anderen. Das muss man aber, wie gesagt, voraussetzen. Man kann es unter den gegebenen Voraussetzungen nicht empirisch herleiten, wie es manche Neurobiologen immer wieder versuchen. Und es folgen daraus jeweils wieder neue Probleme, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Philosophie ziehen.

Vielleicht liegt das Problem, wie es in der Wissenschaft öfter vorkommt, darin, dass wir unsere Grundvoraussatzungen nicht hinterfragen. In unserem Falle wäre das die Trennung von Leib und Seele bzw. Gehirn und Geist. Wir könnten also fragen: Wie wäre es, wenn wir - wie oben bereits angedeutet - nicht zwischen Geist und Gehirn unterschieden, sondern zwischen zwei Arten, in denen wir dieses Eine betrachten? Plakativ ausgedrückt: Wenn wir erleben, nennen wir es Geist und das Psychische; wenn wir es beobachten, nennen wir es Gehirn und Physis. Die Unterscheidung wäre dann die zwischen Erleben und Beobachten.

Damit würden die Schwierigkeiten, die wir mit der Trennung von Geist und Gehirn haben, verschwinden. Allerdings hätte diese Lösung, die z.B. auch von Solms und Turnbull (2002)Solms, Mark und Turnbull, Oliver (2002): The Brain and the Inner World. London: Karnac/Other Press. (Dt.: Das Gehirn und die innere Welt. Neurowissenschaft und Psychoanalyse. Düsseldorf: Patmos, 2004. unter der Bezeichnung 'Doppelaspekt-Monismus' vorgeschlagen wird, die Konsequenz, dass wir in den Neurowissenschaften keine kausalen Bezüge mehr herstellen könnten, denn eine kausale Beziehung zwischen Hirnvorgängen und psychischem Erleben setzt voraus, dass diese beiden Bereiche getrennt sind. Stattdessen könnten wir in der Hirnforschung Korrelate unseres Erlebens entdecken und in der traditionellen Psychologie Korrelate unserer Hirnprozesse. Vielen Naturwissenschaftlern, die an Ursachen und Wirkungen interessiert sind, würde eine solche 'Bescheidenheit' der Hirnforschung nicht gefallen. Mir gefällt sie sehr. Ich finde sie geradezu erleichternd.

Möglicherweise gibt es aber eines Tages noch eine völlig neue, unerwartete Lösung, vielleicht in der Hirnforschung, vielleicht auch auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz. Eine solche Lösung aber erscheint im Moment genau so unvorstellbar, wie es die Lösung der Quantenphysik einmal gewesen ist. Sie würde fundamental sein und unser Weltbild völlig verändern.

'Das Gehirn' ist eine Metapher. Aber wir wissen nicht, wofür.

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