Ein Patient kam mit einer sehr schweren Depression in die Sprechstunde. Eine stationäre Behandlung erwies sich als notwendig und er begab sich in eine Fachklinik. Nach seinem Aufenthalt dort kam er wieder und meinte gleich nach der Begrüßung: "Ich brauche Sie nicht mehr." Ich fragte: "Was ist passiert?" Und er erzählte, es sei ihm auf einer Wanderung mit den anderen Patienten ganz plötzlich und mit überwältigender Wucht klargeworden, dass die anderen ihn genau verstanden und er sie auch. Am folgenden Morgen sei er aufgewacht und habe mit absoluter Sicherheit gewusst, dass die Depression vorbei war und auch nicht wiederkommen würde.
Ein anderer berichtete, er sei, als er durch seinen Alkoholismus in eine Lage geraten war, in der es eigentlich nur noch darum ging, wie er sich umbringen sollte, in eine Gruppe der Anonymen Alkoholiker gegangen. Dort habe er sich mit Vornamen vorgestellt und gesagt, er sei Alkoholiker. Es sei ihm wie eine vollständige Kapitulation vorgekommen. Einige Minuten danach habe er eine Art Erlebnis gehabt, in dem er plötzlich sicher war, dass er nicht wieder trinken müsse. So war es auch.
Der spirituelle Lehrer Eckhart Tolle erzählt in einem Interview:
Schon während der Zeit des Romanistik-Studiums kamen hin und wieder Depressionen und Angstzustände. Trotzdem machte ich weiter und war sehr erfolgreich - weil ich von Angst getrieben war, Prüfungen nicht zu bestehen, zu versagen. Nach meinem Staatsexamen, als Doktorand in Cambridge, kam dann eine so schwere Depression, dass ich meinem Leben fast ein Ende gesetzt hätte. […]
Da war dieser Satz, den ich in jener Nacht plötzlich im Kopf hatte: 'Ich kann mit mir selbst nicht weiterleben'. Dann sah ich die Struktur des Satzes, die Unterscheidung oder Aufteilung in das Ich, also das Subjekt, und das Selbst. Ich fragte mich, wer dieses unglückliche Selbst war, mit dem mein Ich leben mussteIn der auf diesen Seiten verwendeten Diktion würden wir sagen: Wer war dieses unglückliche Ego, mit dem die Seele leben musste?. Und dann erkannte ich, dass ich mich von meinem problembeladenen 'Selbst' trennen konnte, denn dieses war im Grunde nur etwas, das mein Verstand mir diktierte. Ich war plötzlich nicht mehr identifiziert mit meiner persönlichen, unglücklichen Geschichte. Und ganz plötzlich war ein großer innerer Friede da, ein Gefühlt der Gegenwärtigkeit.
In seinem Buch 'Varieties of Religious Experience' nennt William JamesJames, William (1902): The Varieties of Religious Experience. NY: Penguin (USA), 1958. Leute, denen solche Erlebnisse widerfahren, 'twice-born' (zweimal geboren).
Etwas stirbt in ihnen und etwas wird geboren.
Ich weiß, dass es das Erwachen in dem in den Beispielen beschriebenen Sinne gibt, denn ich habe es, in ähnlicher Weise wie meine beiden Patienten, erlebt.
Es ist entweder ein plötzliches Ereignis im Erleben (eine Art 'Erleuchtung') oder ein allmählicher Prozess des 'Zu-sich-Kommens'. Beides besteht in der erlebnismäßigen Erkenntnis (realization) entweder der Teilhabe oder der essentiellen Natur (true nature, essential nature, Essenz).
Auf den kürzesten Nenner gebracht, bezieht sich die erlebnismäßige Erkenntnis der Teilhabe darauf, dass wir mehr gemeinsam haben als uns trennt. Die erlebnismäßige Erkenntnis der essentiellen Natur bezieht sich darauf, mehr zu sein als unser alltägliches Bewusstsein.
Beides hebt die Identifikation mit dem Ego auf. Es lässt das Größere unseres Seins aufscheinen, eine Ebene, die normalerweise durch die Identifikation mit dem Ego verdeckt ist. Wir sehen etwas, was vorher nicht gesehen werden konnte. Etwas, wovor der Wunsch nach Verstehen und Analysieren und alles, womit wir normalerweise identifiziert sind, in die Knie geht und (vorübergehend) aufhört. Das ist, glaube ich, der Kern.
In einer Höhle geht die Lampe kaputt und es wird stockdunkel, so dass ich nichts mehr sehe.
Wie merke ich, dass ich nichts mehr sehe? Spüre ich es? Höre ich es? Nein. Ich sehe es. (Das ist das Wesentliche Sehen.)
Dieses Sehen ist anders als das 'Etwas-Sehen', ich sehe nämlich 'nichts'. Es ist also nicht das 'Was-ich-sehe', sondern das 'Dass-ich-sehe'. Ich sehe, dass ich (nichts) sehe.
Andererseits sind wir niemals völlig und zu jeder Zeit mit dem Ego identifiziert: nicht, wenn wir schlafen und nicht in Momenten besonderer Andacht und Berührtheit. Aber wir erleben das nicht als etwas Besonderes. Es geht nicht tief genug. Und manche sind nie in ihrem Leben ganz mit ihrem Ego identifiziert. Sie bleiben sozusagen in einem jungfräulichen Zustand.
Das Erwachen ist kein Ziel: Es kann nicht erreicht werden. Man kann es nicht machen. Deshalb kann es in diesem Sinne auch nicht angestrebt werden.
Man kann nur bereit sein und bereit werden. Die Exerzitien der Mönche im Kloster oder im Ashram machen bereit, und auch die Unterstützung durch einen Lehrer. Vor allem aber macht die Not bereit. "Ihr, die Ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren" steht am Tor von Dantes HölleDante Alighieri: La Divina Commedia. "Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate.". Aber dort ist in der Göttlichen Komödie der einzige Eingang zum Paradies.
Wie stark unser Ego und damit unser Alltagsbewusstsein dem Erwachen entgegensteht, bemerken wir schon alleine daran, dass wir weder den Säugling, noch den 'dementen' alten Menschen noch den Down-Syndrom-'Patienten', der ein sehr eingeschränktes Ego hat, als das ansehen, was sie auch sind: der Säugling und der Mensch mit Down-Syndrom sind noch nicht 'eingeschlafen' und der Demente ist erwacht. Von unserem normalen Ego-Bewusstsein aus betrachtet sind es einfach verschiedene Arten der Unzulänglichkeit.
Das vorübergehende Erwachen ist viel weiter verbreitet, als man gemeinhin annimmt. Viele haben dieses Erlebnis gehabt. Wir schauen aber immer auf die, von denen wir annehmen, dass sie 'perfekt' sind und das Erwachen bei ihnen permanent ist - selbstverständlich bei voll erhaltenen Ego-Funktionen! Vielleicht Jesus, vielleicht der Buddha, vielleicht Ramana Maharshi. Dann übersehen wir die vielen, bei denen das nicht so ist und deren Kontakt zum Sein immer wieder vom Ego verstellt wird. Wir möchten glücklich und zufrieden sein, das Unglück und die Unzufriedenheit dauerhaft abstellen. Das scheint uns die Erleuchtung oder das Erwachen zu versprechen und viele streben es deshalb als einen dauerhaften Zustand an. So gibt es selbst bei denen, die das Erlebnis hatten, eine Tendenz, es 'bewahren' zu wollen, indem man sich abwendet und abtrennt von der Welt, vom Alltag, vom Schmerz.
'Back to Eden' (zurück ins Paradies) ist eine dauernde Versuchung. Anstatt in den Ashram oder zum Lehrer zu gehen, um bereit zu werden oder 'aufzutanken', möchte man dort bleibenSelbst bei manchen Gurus kann man sich nicht vorstellen, dass sie außerhalb ihres Ashrams lebensfähig gewesen wären. Nicht wenige von ihnen waren dem Alltag und der Welt nicht gewachsen..
Ein Zen-Wort sagt aber:
Vor der Erleuchtung - Holz hacken.
Nach der Erleuchtung - Holz hacken.
Und der Benediktiner-Pater und Zen Roshi Willigis Jäger schreibtJäger, Willigis (2004): Wiederkehr der Mystik. Freiburg: Herder.:
Ein spiritueller Weg, der nicht in den Alltag und zum Mitmenschen führt, ist ein Irrweg.
Der mystische Weg führt zurück in die Welt. Man steigt nicht auf den Berg um oben zu bleiben, sondern um wieder hinunter zu steigen.
(Mein eigener Lehrer sagte mir einmal ganz genau dasselbe.)
So muss auch das Erwachen sozusagen überwunden werden. Genau wie das Ego, das in ihm 'aufgehoben'Wie immer auf diesen Seiten in der Hegelschen Bedeutung: abgeschafft, bewahrt und emporgehoben ist, muss das Erwachen selbst aufgehoben sein im Sein (oder in Gott, was dasselbe ist). Dann gibt es keinen Unterschied mehr.
Pierre Teilhard de Chardin soll gesagt haben:
Wir sind nicht menschliche Wesen, die spirituelle Erfahrungen machen, sondern spirituelle Wesen, die menschliche Erfahrungen machen.