Alle Moral setzt ein unterscheidendes Bewusstsein voraus: "Und Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist." Tiere, kleine Kinder und auch alle Erwachsenen, deren unterscheidendes Bewusstsein beeinträchtigt ist, sind nicht unmoralisch, sondern amoralisch. Mit der Entwicklung des Ego setzt aber alsbald auch die Unterweisung in gesellschaftliche Normen, Sittlichkeit und moralische Werte ein:
"Das tut man nicht!"
"Der liebe Gott sieht alles!"
Es gibt die übergestülpte und die gewachsene Moral. Mit der ersten werden wir groß. Es ist eine Moral, die Zwang ausübt und uns als Sittlichkeit anleitet, uns den Traditionen und Gepflogenheiten unserer Familie, Gruppe und Kultur anzupassen. In ihrer religiösen Ausprägung gebietet sie, im Diesseits auf Lust zu verzichten um dafür im Jenseits belohnt zu werden. Sonst kommen wir in die Hölle. Bereits zu Lebzeiten ist alles Unglück, das uns befällt, Strafe, und es wird aus der Schwere dieser Strafe auf die Schwere der Schuld geschlossen (wie es schon Hiobs Freunde taten). Es ist eine Moral, die auf Furcht, Zwang und Gehorsam basiert.
Etwas davon ist vielleicht notwendig für unsere kulturelle Anpassung und Entwicklung. Es begründet uns als geschichtliche Wesen und sichert unsere Zugehörigkeit. Aber zu dieser Furcht muss eines Tages 'Nein' gesagt werden. Dann erst kann etwas wachsen: eine Moral, die nicht dem Jenseits, sondern dem Diesseits dient und nicht aus Gehorsam, sondern kooperativ befolgt wird.
"In einem geordneten Staatswesen dient der Egoismus der Allgemeinheit", lehrt Bertolt Brechts Me-TiBertolt Brecht: Me-Ti / Buch der Wendungen. Ges.Werke, Bd.12. Frankfurt: Suhrkamp, 1967..
Wir haben uns angewöhnt, zwischen Egoismus und Altruismus einen Gegensatz zu bilden: etwas ist entweder egoistisch oder altruistisch. Das ist Unordnung. Und was Me-Ti vom geordneten Staatswesen sagt, gilt auch für die geordnete Psyche.
Aber man kann es eben nicht von außen überstülpen, jedenfalls nicht, ohne dass ein dauerndes 'Nein' unausgesprochen bleibt und der Mensch zerrissen ist. Dieses 'Nein' schwingt ja auch immer im Freudschen Über-Ich und in unseren Idealbildern von uns selbst und anderen mit.
Bei SpinozaBaruch Spinoza: Ethik, 5.Buch, Lehrsatz 42 lesen wir:
Die Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern diese selbst; und wir erfreuen uns ihrer nicht, weil wir die Lüste einschränken, sondern umgekehrt, weil wir uns ihrer erfreuen, können wir die Lüste einschränken.
Und in einem Buch des Benediktiner-Paters Anselm GrünAnselm Grün und Meinrad Duffner (1989): Gesundheit als geistliche Aufgabe. Freiburg: Herder, 2001 steht der schöne Satz: "Die Moral folgt der geistlichen Erfahrung und nicht umgekehrt."
Crede firmiter et pecca fortiterGlaube fest und sündige wacker., soll Luther gesagt haben.