In meiner Praxis bitte ich manchmal Patienten, ihre Familien durch Kreise auf einer Tafel darzustellen. Ich frage dann auch, wie sie denn eine 'ideale' Familie -der Einfachheit halber aus Vater, Mutter, Sohn, Tochter bestehend- darstellen würden. Die meisten zeichnen vier Kreise in die Ecken eines imaginären Quadrats: oben die Eltern, unten die Kinder. Oft füge ich dann, um die Struktur klarer zu machen, eine gerade Linie zwischen Eltern und Kinder ein. Früher sagte ich dazu: "Das ist die Linie, die die Eltern von den Kindern trennt." Bis mir eines Tages auffiel, dass das nicht richtig ist. Es ist die Linie, die die Eltern von den Kindern unterscheidet.
René Descartes hat unsere abendländische Gewohnheit, eine Unterscheidung auch als eine Trennung zu denken, in eine philosophische Form gegossen, die viel zu wenig hinterfragt wird. Res extensa (das Physische), res cogitans (das Mentale) und Gott, sind seiner Ansicht nach nicht nur unterschieden, sie sind getrennt. Der Beobachter (das Subjekt) ist vom Gegenstand seiner Beobachtung (dem Objekt) nicht nur unterschieden, sondern getrennt bzw. sogar isoliert.
Manche Unterscheidungen machen wir selbstverständlich ohne zu trennen: wenn wir zwei Blätter an einem Baum unterscheiden, trennen wir sie nicht, als wären sie unabhängig voneinander und als gäbe es den Baum nicht. Genau das tun wir aber im Hinblick auf Unterscheidungen, die wir hinsichtlich Mensch-Natur, Ich-Du, Gott-Welt, Wir-Ihr (schärfer noch: 'Wir - Die da') treffen.
Das 'Entweder-Oder' des dualen Denkens, wie es besonders ausgeprägt in der Ego-Identifikation vorliegt, scheint mir nicht so sehr in der Unterscheidung als in der damit verbundenen Trennung zu liegen. In der Unterscheidung bleibt das Gemeinsame noch erhalten, in der Trennung wird es geleugnet. Und selbst noch, wenn ich das Getrennte (These und Antithese) als Synthese zusammenführe, bestätige ich die Trennung, denn was nicht getrennt ist, braucht auch nicht zusammengeführt zu werden.
(Das Unterscheiden selbst ist auch die Voraussetzung für das Vergleichen. Was verglichen wird, muss zuvor unterschieden worden sein. Besonders deutlich ist das, wenn das Ego sich mit anderen oder einem Idealbild seiner selbst vergleicht. Beim Getrennten gehen wir noch weiter und sagen: Das kann man nicht vergleichen.)
So wies z.B. auch Alan Wattsin Vorträgen. s. z.B. bei youtube.com) verschiedentlich darauf hin, dass die meisten - vielleicht alle - Gegensätze untrennbar sind. Es gibt Hügel nur da, wo es Täler gibt; Käufer nur, wo es Verkäufer gibt; den Plus-Pol nur, wenn es den Minus-Pol gibt. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Wo hört der Hügel auf und das Tal beginnt? Wo kann ich den Magneten durchschneiden und die Pole trennen? Wie kann ich die eine Seite der Münze ausgeben und die andere behalten?
Vieles an unserer 'Weltanschauung' beruht darauf, die Dinge zu trennen und Gegensätze zu behandeln, als hätte das eine Ende mit dem anderen nichts zu tun. Ein, wie mir scheint, fundamentaler Irrtum.
Die Zellen unseres Körpers sind unterschieden aber nicht getrennt. Wir Menschen sind voneinander unterschieden aber nicht getrennt. Die Erde, der Kosmos, ist von uns unterschieden aber nicht getrennt. Ich selbst enthalte kein einziges der Moleküle mehr mit denen ich geboren wurde; ich bin in meiner Jeweiligkeit von mir selbst unterschieden aber nicht getrennt. Die Wellen bestehen nicht ohne den Ozean; sie sind unterschieden aber nicht getrennt.
In der Psychotherapie gibt es den weit verbreiteten Begriff der 'Abnabelung', der nicht die Unterscheidung, sondern eine Trennung impliziert und deshalb nicht darauf hinweist, dass wir uns innerhalb unserer Bezüge entwickeln und nicht durch deren Trennung.
Eine Entwicklung, die gleichzeitig die Differenzierung und die Erhaltung von Bindungen umfasst, bezeichnete Helm Stierlin mit dem schönen Begriff 'bezogene Individuation'.
Das Nicht-Getrennt-Sein ist die Grundlage aller wirklichen Spiritualität. Und insofern wir auch naturwissenschaftlich an den Punkt kommen, an dem wir das Erkennende und das Erkannte nicht mehr trennen, sondern bestenfalls noch ad hoc unterscheiden können, öffnet sich auch von dort her diese Grundlage.