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Ego

Aus der sich entwickelnden Wahrnehmung entspringt beim Menschen in den ersten Lebensjahren ein Bewusstein, das sich durch Unterscheidungen immer mehr differenziert, bis es schließlich sich selbst unterscheidet und das so Unterschiedene 'ich' nennt. Mit der Möglichkeit, ein Nennendes von einem Benannten zu unterscheiden, ist der Übergang markiert von einfachen (An-) Zeichen zu einer Welt der sprachlichen Bedeutung, der Reflexivität und der Selbstreferenz, aber auch der Gegensätze und des dualen Denkens. Erst durch das Ego erleben wir uns als Individuen, die von anderen unterschieden sind und sich als Unterschiedene erfahren können.

Ich verwende hier meist die Bezeichnung 'Ego' an Stelle von 'Ich', weil wir natürlich mehr sind als ein Ego, und wenn wir "ich" sagen, dann wird damit zwar sehr häufig, aber eben nicht immer das Ego bezeichnet.

(Auch in anderer Weise sind wir selbstverständlich individuell verschieden und einzigartig: genetisch und epigenetisch zum Beispiel, oder in der individuellen Ausgestaltung unseres persönlichen Wesens. Aber auch diese Unterscheidungen werden vom Ego gemacht.)

Die Schöpfung -biblisch wie psychologisch- ist ein Prozess des (Unter-) Scheidens und Nennens:

(6) Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern, und die sei ein Unterschied zwischen den Wassern. (7) Da machte Gott die Feste und schied das Wasser über der Feste vom Wasser unter der Feste. Und es geschah also. (Genesis 1,6-7)

Mit dem Unterscheiden entstehen die Dinge und damit auch ihre Grenzen. Auch 'Ich' entstehe so: indem ich unterscheide, beginne ich, auch mich zu unterscheiden.

Das Ich, führt Erich NeumannNeumann, Erich (1949): Ursprungsgeschichte des Bewusstseins. München: Kindler, 1968. aus, bildet sich in dreifacher Abgrenzung und -ich ergänze- Konjunktion:
• gegen die Welt (als den außen unterschiedenen Dingen) und mit und an ihr;
• gegen das Nicht-Ich (als dem innen unterschiedenen Psychischen) und mit und an ihm;
• gegen die anderen Personen, also einem 'Du' (auch im Sinne BubersMartin Buber (1957): Ich und Du. In: Ders.: Das dialogische Prinzip. Gerlingen: Lambert Schneider, 1992., d.h. mit und an dem 'Du').

So wird das Ego sozusagen zum gegenüberstellbaren Daumen des Psychischen, mit dem wir uns und die Welt begreifen und sprachlich ausdrücken können. Und es ist seine Grundfähigkeit, als ein Unterscheidendes und durch sich selbst Unterschiedenes gegenüber zu stehen.

Gleichzeitig ist in der Gegenüberstellung eine existenzielle Bezogenheit -der Daumen gehört zur Hand, auch wenn es ihm selbst nicht so vorkommt.
Ein Ich, das nicht gegenübersteht, ist keines. Es braucht die Welt, das Du, das psychische Nicht-Ich, weil es etwas braucht, dem gegenübergestanden werden kann. Von daher schon kann man sagen, dass es ohne dieses Subjekt (des Ich) kein Objekt (Welt, Du) gibt und ohne Objekt auch kein Subjekt.
Auch sich selbst steht das Ego in dieser Weise gegenüber. Es beschäftigt sich mit sich selbst wie mit einem Objekt, z.B. in der Identifikation, in der Ablehnung ('Ich will nicht 'ich' sein') oder in der Selbsterkenntnis.

- Es sei an dieser Stelle noch angemerkt, dass es das Ego natürlich nicht gibt. Vielmehr ist es eine nützliche Fiktion im Sinne VaihingersVaihinger, Hans (1911): Die Philosophie des Als-Ob. Berlin: Reuther und Reichard., genau wie z.B. die Meridiane der Erdkugel. Auch sie gibt es nicht: Man kann sie nicht empirisch herleiten oder durch unmittelbare Anschauung 'finden'. Dennoch sind sie für die Navigation so gut wie unentbehrlich. Vaihinger schrieba.a.O., S.33:

Meist [wird] aus der Unwirklichkeit solcher Vorstellungsgebilde auf ihre Unbrauchbarkeit geschlossen [...] Dieser Schluss ist aber gerade so falsch, wie der umgekehrte aus der Brauchbarkeit auf die Richtigkeit.

Betrachten wir die Sache noch aus einem anderen Blickwinkel:

Für das Kind exisitiert die Welt, weil es sie sieht.
Der Erwachsene sieht die Welt, weil sie existiert.

In der kindlichen Entwicklung gibt es die Welt zunächst nur, weil und insofern sie wahrgenommen wird. Das Neugeborene öffnet die Augen und 'Etwas' erscheint; es schließt sie wieder und dieses Etwas hört auf zu existieren. Die Welt existiert nur, weil und solange sie gesehen wird. Im Laufe der Reifung dreht sich das (sehr langsam) um und Erwachsene sehen die Welt, 'weil' sie unabhängig von ihnen existiert.

Für einen Säugling bis zum Alter von etwa sechs Monaten hört eine Puppe einfach auf zu existieren, wenn man sie (vor seinen Augen) unter einer Decke versteckt. Er sucht nicht nach und lernt erst, dass etwas existieren kann ohne im Blickfeld zu sein. Größere Kinder halten sich manchmal die Augen zu und sagen "Such mich!". Sie denken: was ich nicht sehen kann, das kann mich auch nicht sehen. Die Welt ist also anfangs vollständig auf das Kind selbst zentriert, besteht nur seinetwegen und ist ihm angepasst. Das ist der primäre Narzissmus, die primäre All-Einheit, in und aus der sich mit dem Bewusstsein das Ego entwickelt, indem es sich der Welt Schritt für Schritt gegenüberstellt und sie damit zu etwas Äußerem, zu einem Gegen-Stand, macht, sich selbst von ihr trennt, so dass sie und das Ego zu etwas Unterschiedenem und Unabhängigen werden.

Natürlich gibt es auch in der Differenzierung wieder eine Integration, so dass sich nicht alles auflöst. Beispielsweise integrieren Kinder die Vorder- und die Rückseite eines Gegenstandes zu einem einheitlichen Bild von ihm. Und sie integrieren die zornige Mutter und die freundliche Mutter zu einer einheitlichen Person. Man nennt das Objektkonstanz.

Das Ego erlaubt uns, uns in der Welt zurechtzufinden. Wir lernen, uns in ihr zu behaupten. Wenn es 'weh tut' oder wir die -wie Wolfgang GiegerichWolfgang Giegerich: Die Atombombe als seelische Wirklichkeit (1988) und: Drachenkampf oder Initiation ins Nuklearzeitalter (1989). Zürich: Schweizer Spiegel Verlag. es nennt- 'Schrecken der Nacht' und den 'Abgrund' erblicken, dann springt das Ego bei und hilft: es wehrt sich, es tut etwas, es versucht Kontrolle auszuüben. Aber es sucht, je stärker es wird, mehr und mehr auch die Herausforderung, und mehr und mehr kommen die Herausforderungen auch aus ihm selbst, als empfundene Kränkungen, als Ungenügen, als Abweichung vom Ideal, das es sich selbst gemacht hat.

Und weil es in der Regel nicht merkt, dass dieses Ideal aus ihm selbst kommt, entsteht die letzte Herausforderung, nämlich die, sich selbst -bzw. im 'psychopathischen' Fall die ganze Welt, das Nicht-Ich- zu überwinden. Spätestens an dieser scheitert es dann.

Geozentrik: Andreas Cellarius, Harmonia Macrocosmica; 1660. Bildquelle: http://commons.wikimedia.org Im kollektiven Bereich entspricht dem primären Narzissmus, also dem Zustand vor der Entwicklung des kollektiven Ego, das geozentrische Modell des Kosmos. Im Gottesbild entspricht ihm die Schöpfung 'von oben', die für den Menschen geschaffen wurde und an ihn angepasst ist.

Sobald sich aber ein Ego der Welt gegenüber zu stellen beginnt, wird sie auch bedrohlich. Es entsteht das Bedürfnis, sie zu kontrollieren.

So hat das Kind Schuldgefühle, wenn sich die Eltern trennen oder ein Elternteil stirbt: "Es ist wegen mir", sagt es. Denn in ihm ist der Gedanke, dass es für 'seine' Welt auch verantwortlich ist, und zwar weil sie eben noch nicht ganz unabhängig ist, sondern in (und an) ihm vergeht, wie es an ihr. Kinder fühlen sich also notwendig schuldig an dem Schlimmen, das in 'ihrer' Welt passiert. Man kann und soll ihnen zwar sagen, dass sie es nicht sind, aber sie selbst müssen es zunächst so sehen. Kinder sind deshalb auch bereit, alles dafür zu geben, damit das Schlimme aufhört.

Stämme und Gesellschaften in diesem Stadium opfern den Göttern und versuchen, diese -und mit ihrer Hilfe die Welt- durch Wohlgefälligkeit gnädig zu stimmen. (Neben den Religionen, die dem Geist Gottes opfern, damit er die Welt den Bedürfnissen der Menschen anpasst, findet sich viel davon auch in esoterischen Lehren, in denen die Macht des eigenen Geistes und der Gedanken über die Realitäten der Welt -'create your own reality'- betont wird und wir, weil alles von uns abhängt und auf uns bezogen ist, für die Realität und unser persönliches Schicksal auch verantwortlich sind.)

Bald aber beginnen wir, uns auch Gott gegenüberzustellen. Aus der Bitte um die Gnade wird ein Anspruch darauf; Gott wird sozusagen als Partner angesehen, mit dem man Handel treibt und 'Deals' macht: "Ich bin brav; ich opfere dir; ich bete zu dir; und dafür kriege ich bitteschön von dir..."

Im zweiten Schritt wird selbst dieser Partner entbehrlich. Wir können jetzt selber. Wir beherrschen die gegenübergestellte Welt durch unsere eigenen Handlungen, durch unsere Wissenschaft, unsere Ingenieurskunst, unseren eigenen Schöpfergeist. Das Gegen-ständliche, das Nicht-Ich (die Welt, die Seele, das Du), wird beherrscht und behandelt. Selbst die Theologie wird zu einer Wissenschaft, denn auch Gott steht völlig gegenüber.

Sind wir also erwachsen geworden? Auf jeden Fall scheinen wir die schützende Hand der Mythen und der Religion weitgehend verlassen zu haben. Damit ist auch der durch sie begründete unmittelbare Lebenssinn hinfällig. Wir sind, wie Wolfgang GiegerichGiegerich, W. (2004): The End of Meaning and the Birth of Man. Jnl. of Jungian Theory and Practice. Vol.6 #1 es in Anlehnung an C.G. Jung ausdrückt, extra ecclesiam"außerhalb der Kirche", nach dem Diktum der katholischen Kirche: nulla salus extra ecclesiam - kein Heil außerhalb der Kirche. und - insofern unsere Lebensumgebung inzwischen wesentlich durch uns selbst hergestellt wird - auch extra naturam. Das Religiöse und das Aufgehoben-Sein darin sind zur Privatsache geworden; Mythen werden geschaffen und vermarktet; die Natur wird in Reservaten abgezäunt und vor unseren Eingriffen geschützt.

Psychologisch hat C.G. Jung - wie der Jungianer Giegerich in seiner scharfen Analyse der Jungianischen Psychologie (a.a.O.) ausführt - versucht, das Überkommene zu retten, indem er die Götter und Mythen als Archetypen innerhalb der Psyche verortet. So können wir in der Psyche Kind bleiben, im Status der 'In-ness' und der 'unborn-ness' (Giegerich) verharren, während wir außen, erwachsen, an einem Alltag teilnehmen, der, wie Jung meinte, bedeutungslos und banal geworden ist.

Aber können wir denn in einer Innerlichkeit geborgen sein, in der die alten Götter und Mythen dadurch bewahrt werden, dass sie archetypisch aus uns heraus auf uns hereinwirken? Man möchte einfach nicht zugeben, dass diese alten Götter und Mythen ihre Aufgabe erfüllt haben und vom Ego als Aberglauben entlassen worden sind. Und dass wir also in etwas Größerem aufgehoben sein müssen als in unserem Kinderbett (schon gar nicht in einem Kinderbett, das nur noch er-innert ist).

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