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Mathematik

Manches in der Mathematik ist von wunderbarer Schönheit, selbst wenn man kein Mathematiker ist, so wie eine Fuge schön ist, auch wenn man kein Komponist ist. Etwa der sogenannte Goldene Schnitt oder die folgende Gleichung von Leonhard Eulergeb. 1707 in Basel, gest. 1783 in St.Petersburg, einer der produktivsten Mathematiker aller Zeiten.
Die Zahl e (= lim(1+1/n)n für n→∞) ist nach ihm benannt.
, in der für mich - wie in der Musik auch - etwas vom Mysterium unseres Geistes vorscheint:

eπi+1 = 0

Die Mathematik ist voll von solchen 'ewigen' Gesetzmäßigkeiten, die den Platonischen Ideen nahestehen und uns ein Gefühl der zeitlosen Ordnung, Wohlgeformtheit und Eleganz geben. Manche von ihnen kann man beweisen, d.h. durch andere mathematische Operationen sicher herleiten. Zum Beispiel den Satz des Thales, nach dem jeder Winkel unter dem Halbkreis ein rechter ist. Einige andere sind bis heute nicht bewiesen, wie die GoldbachscheChristian Goldbach (1690-1764), deutscher Mathematiker Vermutung, derzufolge alle geraden Zahlen größer als 2 als Summe zweier Primzahlen geschrieben werden können.

Wieso bildet die Mathematik unsere Wirklichkeit so genau ab? Warum kann sie in so präziser Weise zu Voraussagen benützt werden? Und warum ist es möglich, in der Mathematik eine Wirklichkeit wie die Quantentheorie völlig klar und widerspruchsfrei zu formulieren, während wir das in der Alltagssprache nicht können, sondern auf eine Art widersprüchlicher Gleichnisse angewiesen sind?

Das ist sehr seltsam und eigentlich überhaupt nicht selbstverständlich. Schließlich besteht Mathematik zum größten Teil in der Manipulation von Symbolen, denen in der 'Realität' nichts entspricht, am einfachsten natürlich zu sehen bei der Ziffer Nullvgl. z.B. Seife, Charles (2000): Zero: The biography of a dangerous idea. N.Y.: Penguin. und allen Gleichungen von der Form 'Ausdruck = 0'. Sie ist also keine Natur- sondern eine Geisteswissenschaft.

Vielleicht weist ja dieses 'Anwendungsproblem der Mathematik' in einer von zwei möglichen Varianten auf unser Erkenntnisvermögen hin?

Die erste wäre folgende: Die Mathematik liefert eigentlich nur Sätze über die Möglichkeiten unseres Gehirns bzw. unserer (logischen) Erkenntnisfähigkeit. Und genau dasselbe tun auch alle naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Sie beschreiben nicht die Welt, sondern Möglichkeiten unseres Gehirns, auch wenn sie von Galaxien oder Atomkernen handeln. Was Mathematik und Welt also vereint und 'passend' macht, ist die Funktionsweise des Gehirns, das bestimmte Konstruktionen bzw. Erkenntnisse möglich macht und andere nicht. Es sind Funktionen desselben Gehirns, die etwas sehen und die etwas berechnen. Die Übereinstimmung ist eine Übereinstimmung der Hirnfunktionen.

Das wäre der positivistische bzw. konstruktivistische Standpunkt, der allerdings sofort etwas Transzendentes einführen muss, also eine übergeordnete Realitätsebene, über die wir prinzipiell nichts wissen können. So hat es ja auch Immanuel Kant, der in gewissem Sinne ein Vorbereiter des Konstruktivismus war, in seiner 'Kritik der reinen VernunftKant, Immanuel (1787): Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart: Reclam, 1966.' angenommen. In der 'Vorrede zur zweiten Auflage' schreibt er:

Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll.

Und Ludwig Wittgenstein schrieb am 11.6.1916 in sein Tagebuch:

Ich weiß, daß diese Welt ist. Daß ich in ihr stehe wie mein Auge in seinem Gesichtsfeld.

Das Gehirn, dem also diese Funktionen zugeschrieben werden, ist dann aber selbst natürlich auch nur eine Konstruktion. Eine Konstruktion aber wovon? (Eine ähnliche Falle ergibt sich z.B. auch, wenn wir sagen: "Bewusstsein ist nur eine Illusion"; es muss dann etwas geben, was diese Aussage macht, also Bewusstsein.)
Zurück zu den Konstruktionen: Außerdem müsste man dann vermuten, dass möglicherweise die Erkenntnisse mit der Art und Weise variieren, wie bestimmte Gehirne, etwa in anderen Spezies oder in Außerirdischen oder hochentwickelten Computern aufgebaut sind. In 'unserem' Universum gälten also vielleicht ganz andere Naturgesetze wie im Universum eines Bewohners des dritten Planeten von Alpha Centauri. (Und vielleicht ist unsere Konstruktion insgesamt eine Illusion, wie es die hinduistischen Weisen unter dem Begriff 'Maya' darstellen oder wie es neuerdings in dem Kinofilm 'Matrix' angedeutet ist.)

Die zweite Antwort wäre, dass tatsächlich eine vom erkennenden Gehirn unabhängige Übereinstimmung besteht zwischen der Welt, die ist, und der Welt, die wir erkennen. Dann könnten wir tatsächlich annehmen, dass alle möglichen Gehirne zu vergleichbaren Erkenntnissen über die Welt kommen und wir müssten auch nicht unbedingt die epistemologische 'Leerstelle' eines Transzendenten in Kauf nehmen (obwohl wir natürlich auch hier annehmen können, dass eine transzendente Wirklichkeit dieser Übereinstimmung zugrunde liegt). Was also stellt die Übereinstimmung her, wenn es nicht das Gehirn ist? In welcher Weise sind Geist und Welt dann aufeinander bezogen?
Anders gefragt: Lässt sich ein 'Geist' in einer Maschine schaffen? Lassen sich alle mentalen Prozesse des Menschen in einer anderen materiellen Realisation, etwa einer Künstlichen Intelligenz, darstellen? Gibt es also einen Geist, der von den besonderen materiellen Gegebenheiten unseres Gehirns - oder sogar irgendeiner materiellen Gegebenheit - unabhängig ist? Das ist vielleicht die eigentliche Grundfrage aller Philosophie. Sie bleibt unbeantwortet.

Und so, wie wir beim Konstruktivismus auf das unerkennbare Mysterium des Transzendenten stoßen, stoßen wir hier auf das Mysterium in Gestalt dieser Grundfrage. (Die Religionen haben selbstverständlich eine Antwort: Es gibt einen solchen unabhängigen Geist, nämlich Gott.)

Da ist aber noch eine dritte MöglichkeitVgl. Radecke, H.-D. und Teufel, L. (2010): Was zu bezweifeln war. München: Droemer. S.320. Wenn wir annehmen, dass sowohl die Welt als auch die Beobachter und deren Methoden der Messung und Beschreibung eine Einheit sind, deren Trennung (die Subjekt-Objekt-Trennung) nur eine Konstruktion des unterscheidenden Bewusstseins ist, dann verwundert es weniger, dass die Teile zusammenpassen, denn die Trennung ist sozusagen ein Artefakt. Es ist dann, als würden wir ein Blatt Papier auseinanderschneiden und uns anschließend wundern, warum die Teile zusammenpassen. Hier könnte auch die Schönheit hineinpassen, die ja bei einer Theorie oder Formel eigentlich kein Kriterium sein dürfte, aber doch häufig eine Rolle spielt. So erzählt der Physiker Murray Gell-Manngeb. 1929 in New York, Nobelpreis 1969 in einem Vortrag (2007), er habe einmal eine Theorie veröffentlicht, obwohl viele Experimente dagegen sprachen. Die Theorie sei aber einfach schön und elegant gewesen, und es habe sich dann herausgestellt, dass sie auch richtig war.

Eine andere, aber damit zusammenhängende Frage ist, was die Mathematik als Sprache auszeichnet:

Anders als die Sprache, mit der wir uns im Alltag verständigen, macht die Mathematik keine Existenzaussagen über Objekte. Sie spricht also nicht über die Dinge, sondern über bestimmte Beziehungen zwischen den Dingen.

Der Satz "2 Äpfel und drei Äpfel macht 5 Äpfel" ist mathematisch völlig äquivalent zu "2 Einhörner und 3 Einhörner macht 5 Einhörner". Und er ist auch äquivalent zu "Angenommen, es gäbe etwas, was 'Apfel' heißt und wir nähmen davon 2 und fügten 3 davon hinzu, dann erhielten wir 5". In allen drei Fällen ergibt sich mathematisch einfach: 2 + 3 = 5.

Es macht also keinen Unterschied ob es die Einheiten, die da zusammengezählt werden, gibt oder nicht gibt, oder ob wir den Satz als Wirklichkeit oder als Möglichkeit formulieren. Das alles ist mathematisch gleichgültig. Man kann deshalb in der Mathematik Beziehungen und Eigenschaften von Dingen beschreiben, ohne die Frage anzuschneiden, ob es diese Dinge, wie Einhörner oder Elektronen und andere Elementarteilchen überhaupt gibt und wie sie als solche beschaffen sind. Damit trennt sich in gewisser Weise die mathematische Physik von der phänomenologischen, in der uns gerade diese Beschaffenheit und das So-Sein der 'Dinge' interessiert und auch in den dazu bestimmten Umgangssprachen (also deutsch, chinesisch, usw.) einigermaßen beschrieben werden kann.

Man beschreibt einen Kreis durch r2 = x2 + y2 ohne dass es deswegen 'Kreise' geben muss. Und es gibt tatsächlich auf der ganzen Welt kein Objekt, das ein absolut vollkommener Kreis ist. Auch wenn wir in der Quantenphysik das Verhalten von Lichtquanten oder Elektronen als Partikel auffassen und sie etwa mit der Matrizenmechanik Heisenbergs oder mit Schrödingers Gleichung als Wellenfunktionen berechnen, bedeutet das nicht, dass sie Partikel bzw. Wellen sind.

Deshalb werden in der Mathematik Zusammenhänge verständlich, die wir in der Alltagssprache nicht oder nur gleichnishaft ausdrücken können. Denn die Alltagssprache redet, wie gesagt, von Dingen, während die Mathematik das nicht tut, sondern nur das 'Dazwischen', also die Beziehungen, Strukturen und Symmetrien beschreibt. Andererseits können wir in der Mathematik Sätze und komplexe Beschreibungen formulieren, von denen wir zunächst nicht wissen, ob sie irgendeinen Bezug zu einer physikalischen Wirklichkeit haben oder nur sozusagen grammatisch wohlgeformt sind bzw. eine Art mathematische Poesie oder fiktive Möglichkeit darstellen. In der Naturwissenschaft ist daher die Prüfung am Experiment unerlässlich.
Andererseits ist denkbar (aber nicht recht vorstellbar), dass das Universum zunächst aus Beziehungen, Feldern, allgemein: Veränderungen besteht, Veränderungen von "Nichts"ausführlicher dazu: Heinzmann (2011): Nova Philosophia Naturalis - Der Begriff der Wirklichkeit, II.1.3, die sich sozusagen überlagern und an den 'Knoten' oder Überschneidungspunkten ein "Etwas" (als eine Art raumzeitlich mehr oder weniger stabilen Attraktor) hervorbringen, das wir dann als 'Ding' oder 'Phänomen' wahrnehmen und bezeichnen. In diesem Fall wäre auch die Mathematik nicht nur eine Beschreibung, sondern quasi eine Eigenschaftvgl. z.B. Tegmark, Max (2008): The Mathematical Universe. Found.Phys. 38, 101-150. des Universums (darauf könnte auch der Umstand hinweisen, dass es viele natürliche Sprachen gibt, aber, soweit wir wissen, nur eine Mathematik). Es würde dann in gewissem Sinne die Beschreibung mit dem Beschriebenen ineins fallen.

Kehren wir noch kurz zur Ausgangsfrage zurück: In seinem oft zitierten Artikel "The Unreaonable Effectiveness of Mathematics in the Natural Sciences" (1960) schrieb Eugene Wigner(1902-1995), Physik-Nobelpreis 1963 am Schluss: "The miracle of the appropriateness of mathematics for the formulation of the laws of physics is a wonderful gift which we neither understand nor deserve."

(Weiter unter: Selbstreferenz)

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