05.06.2011
Ein Text von 2008, der nicht nur in
chronologischer Hinsicht etwas aus der Reihe fällt.
Ich will ihn aber trotzdem jetzt hier einstellen.
-Für Fritz, Bernhard, Thommie und 'Silchers Rache'-

1968

1968 war ich siebzehn.
Wir hatten Fragen.
Wir bekamen keine Antworten.
Etliche meiner Lehrer waren Nazis. Von Hitler wusste ich als erstes, dass er die Autobahnen gebaut hatte. Man sagte 'die schlimmen Jahre' und meinte damit die Zeit von 1945 bis 1948. 1945 war der 'Zusammenbruch'. Niemand wäre auf die Idee gekommen, es 'Befreiung' zu nennen. Die DDR durfte nicht einmal in Gänsefüßchen so genannt werden, sondern hieß SBZ. Die maßgebliche Landkarte im Diercke-Schulatlas war 'Deutschland in den Grenzen von 1937'.
Als wir lange Haare hatten, nannte man uns 'Gammler' und meinte gelegentlich: "Das hätte es bei Adolf nicht gegeben." Oder: "Euch hat man zu vergasen vergessen." 1969 schrieb Franz-Josef Strauß: "Diese Personen [die APO - außerparlamentarische Opposition][...] benehmen sich wie Tiere, auf die die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht möglich ist [...]"

An der Uni wuchs unser Grauen vor der Unanständigkeit des Anstandes unserer Elterngeneration. Und weil wir immer noch keine Antworten bekamen, ließen wir uns auch sonst nichts mehr sagen, überhaupt nichts mehr, sondern bekämpften diesen Anstand durch provokante Unanständigkeit. Wir gingen 30 Mann/Frau hoch zum Nacktbaden an den See, weil wir wussten, dass wir damit anecken würden, weil uns die Empörung der Anständigen zeigte, dass wir es besser machten als sie. Wir vögelten herum. Wir wussten, dass die Anständigen es heimlich auch taten, es aber niemals zugeben würden, so wie sie niemals zugeben würden, was sie in den 12 Jahren vor den schlimmen gemacht hatten.

Wir wollten nicht anständig sein, aber so ganz ging's dann doch nicht; auch wir sagten nie 'ficken' und von Blowjobs hatte zumindest ich noch nie was gehört. Dafür gab es Frauenbuchläden, wo die Mädels im Hinterzimmer interessante Selbstuntersuchungen der Vagina mittels eines Spekulums durchführen konnten. Wir Jungs durften da auf keinen Fall rein. Das stand schon an der Ladentüre. In allen WGs waren Blumentöpfe in Makraméhängern, Flokatis, Kugellampen aus weißem Papier und Latzhosen. Aber wir brauchten keinen erotischen Schnickschnack. Wir kriegten das auch so hin.

Die Autos der Anständigen wurden jeden Samstag gewaschen und hatten kleine Aufkleber: Großglockner. Rimini. Sylt. Es gab auch schon Wackeldackel und gehäkelte Toilettenpapierrollen für die Hutablage. Man war wieder wer.
Unsere Autos dagegen waren staubig, bunt und selbstgeschweißt. Aber Aufkleber hatten sie auch. Auf meiner 23-PS Ente stand hinten drauf: 'Und sie bewegt sich doch'.

Wir waren intolerant, verstockt und irgendwie subdepressiv. Wir wollten alles ganz neu anfangen. Dabei ruinierten wir Beziehungen, manche Kinder wurden in Kinderläden verkorkst, und unser politisches Bewusstsein war in vieler Hinsicht ein Haufen Müll. Anstatt des Braunen Buches eines Massenmörders lasen wir das Rote Buch eines anderen Massenmörders. Wir ließen einander nicht ausreden, stellten auf AStA-Sitzungen nachts um drei Geschäftsordnungsanträge, schrien andere in Grund und Boden und erfanden eine soziologesische Sprache, die außer uns niemand verstand. Vor allem die nicht, die wir befreien wollten, die Arbeiterklasse, von der wir gelesen hatten, dass es sie irgendwo gab und hofften, dass sie nicht zu den Anständigen gehörte. Gesehen hatte sie noch keiner so richtig, aber wir wussten: irgendwo war sie und wartete auf uns. So kämpften wir auch gegen den §175: Wir waren nicht ganz sicher, ob wir jemand kannten, der schwul war, aber irgendwo waren sie und warteten.

Unsere Schützenfeste waren die Folk-Festivals. Da war's gemütlich. Da war ein bisschen Haight Ashbury, ein bisschen ozeanisches Gefühl. Nach der Verkündung der politischen Botschaften durch eine besondere Kaste, die Liedermacher, war Tanz, deutsche oder französische Volkstänze. Die Frauen hatten viel Henna im Haar und trugen rote indische Paillettenkleider. Es duftete nach Patschouli und Ylang Ylang und sehr oft nach hochkarätigem schwarzem Afghanen oder rotem Libanesen. Man hatte naturbelassene Instrumente wie Drehleiern, Concertinas und Mandolinen. Das war mal was anderes als Pink Floyd oder Deep Purple, die sonst durch die WG dröhnten.

Es war eine Zeit, miserabel und gleichzeitig ganz wunderbar. Sie endete, glaube ich, im Deutschen Herbst 1977.

Vielleicht hat diese Zeit ein wenig dazu beigetragen, dass es besser geworden ist, freundlicher und offener. Trotz alledem.

18.04.2011
Zeitzeugnisse

Es gibt, sagte mein Freund Antoine neulich während eines deutsch-französischen 'Krisengipfels', den wir beide unter vier Augen veranstalteten, tatsächlich eine Möglichkeit des unbegrenzten Wachstums: ab und zu muss alles verlorengehen; man fängt wieder bei Null an. Und weil das die einzige Möglichkeit ist, stimmen all die Befürworter des grenzenlosen Wachstums implizit der regelmäßigen Vernichtung des Gewachsenen zu.

Das erinnerte mich daran, schon bei Karl Kraus gelesen zu haben: "Ich weiß genau, daß es zu Zeiten notwendig ist, Absatzgebiete in Schlachtfelder zu verwandeln, damit aus diesen wieder Absatzgebiete werden." (In dieser großen Zeit; Fackel Nr. 404, 5; 1914).

Der 1917 in Berlin geborene französische Philosoph Stéphane Hessel fordert in seinem 2010 erschienenen Büchlein Indignez-Vous! (Empört euch!), dass die Résistance - der er angehörte - sich nach dem Totalitarismus nun gegen den neoliberalen Missbrauch der erkämpften Freiheit richten müsse. "La liberté du renard dans le poulailler", die Freiheit des Fuchses im Hühnerstall, nennt er diesen Missbrauch.

Und der ehemalige Gouverneur von Minnesota, Jesse Ventura, schrieb am 12.4.2011 einen 'Brief an die herrschende Klasse' [Meine Übersetzung]:

Ihr kontrolliert unsere Welt. Ihr habt die Luft vergiftet, die wir atmen, das Wasser verdreckt, das wir trinken, und die Nahrungsmittel patientiert, die wir essen. Wir kämpfen in euren Kriegen, sterben für eure Sache und opfern unsere Freiheit um euch zu schützen. Ihr habt unsere Ersparnisse liquidiert, unseren Mittelstand zerstört und unsere Steuern dazu verwendet, eure unendliche Gier freizukaufen. Wir sind die Sklaven eurer Konzerne, Zombies eurer Medien, Diener eurer Dekadenz. Ihr habt unsere Wahlen geraubt, unsere Führer ermordet und unsere Menschenrechte abgeschafft. Ihr besitzt unser Eigentum, verschifft unsere Jobs ins Ausland und zerstückelt unsere Gewerkschaften. Ihr habt Profit aus der Katastrophe geschlagen, unsere Währungen destabilisiert und unsere Lebenshaltungskosten erhöht. Ihr habt euch unsere Freiheit unter den Nagel gerissen, unsere Bildung abgebaut und unsere Flamme fast zum Erlöschen gebracht. Wir sind getroffen... wir bluten... aber wir haben keine Zeit zu bluten [Anspielung auf einen Buchtitel Venturas: I ain't got time to bleed]. Wir werden die Giganten in die Knie zwingen und ihr werdet unsere Revolution erleben!

Dass ein Gouverneur sich selbst offensichtlich nicht ohne weiteres zur herrschenden Klasse zählt, zeigt, dass er etwas verstanden hat. Dennoch bin ich mir bezüglich seines letzten Satzes leider nicht so sicher. Sicher nur, dass die globale Instabilität nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch zunimmt.

30.03.2011
Prioritäten

Fukushima ist außer Kontrolle. Die Bürger Baden-Württembergs haben vor drei Tagen die landesfarbige Regierung vom Netz genommen. Dem Präsidenten des BDI, Hans-Peter Keitel, geht alles viel zu schnell.

Wir müssen unglaublich aufpassen, dass in der Diskussion um die Atomenergie unser wirtschaftlicher Erfolg nicht unter die Räder kommt

sagte er dem Stern und fuhr fort:

Manchmal vermisse ich die kreativen Ruhephasen eines geordneten Betriebs. Was war das schön, wenn ich auf Dienstreise in Australien war. Da gab es nur ein Faxgerät und für eine Antwort an die Zentrale hatte man - dank der Zeitverschiebung - zwölf Stunden Zeit".

Wie jetzt? Das Geldverdienen kann nicht schnell genug gehen, aber dann wär's doch schön, wenn man bei Atomkatastrophen ein Faxgerät und 12 Stunden Zeit hätte?

06.03.2011
Religion

Kapitalistische Ökonomie ist weder eine Wissenschaft, noch eine sinnvolle ökonomische Theorie oder Praxis. Sie ist eine dogmatische Religion.

Ein paarmal hatte ich schon in diese Richtung gedacht (z.B. 'Katechismus' weiter unten auf dieser Seite). Als ich es aber neulich von Volker Pispers hörte, wurde deutlich, dass es die einzige Art und Weise ist, unsere völlige ökonomische Verblödung zu erklären.

Der Katholizismus glaubt an die Jungfrauengeburt, der Islamismus an 72 Huris und der Kapitalismus an die Unendlichkeit des Wachstums. Ich persönlich halte die Jungfrauengeburt und die Huris für wesentlich wahrscheinlicher.

Die Hochhäuser der Banken sind die Tempel. Und wie Joseph Campbell schon vor über 40 Jahren feststellte, überragen sie die Kirchen, die früher einmal die höchsten Gebäude einer Stadt waren, bei weitem. Bischöfe und Priester, also die Banker, Industriemanager, Analysten und 'Wirtschaftsexperten' werden natürlich nicht in allgemeinen freien Wahlen bestimmt, erlauben aber, dass das Fußvolk der Gläubigen sich 'demokratisch' Laienkonvente wählt, sogenannte Parlamente, in denen der Gemeindealltag unter strikter Beachtung der religiösen Grundsätze geregelt wird.

Die Priesterseminare, also die Wirtschaftsfakultäten der Hochschulen, wählen junge Menschen aus, die ihnen in Scharen zuströmen, und bereiten sie vor, indem sie ihnen neben der Dogmatik auch Apologetik und Homiletik beibringen. Dort lernen die Jungen, dass es auf die diesseitigen Lebensumstände der Gläubigen nicht ankommt, sondern darauf, dass sie nicht vom Glauben abfallen und die religiösen Grundsätze sowie die Lebensumstände der Priesterschaft nicht gefährdet werden. Und sie lernen, das den Gläubigen gegenüber zu leugnen und dem 'Menschenmaterial' zu erzählen, man habe nur ihr Bestes im Sinn und außerdem könne ja jeder Priester werden, wenn er wolle. ('Jeder kann reich werden, aber nicht alle', sagte Pispers).

Es ist ein gigantisches Schneeballsystem. Man kann sehr einfach zeigen, dass es nicht geht, aber dann kriegt wieder einer den Wirtschaftsnobelpreis dafür, dass er mit ein paar mathematischen Schmierereien behauptet, es ginge eben doch. Früher hielt man, ganz analog, jahrhundertelang den religiösen Grundsatz, demzufolge die Erde im Mittelpunkt steht, durch die komplizierte Epizyklentheorie aufrecht.

Was eine rechte Religion ist, das braucht natürlich auch einen Teufel. Bis vor kurzem waren das die Kommunisten. Seit die etwas schwächeln, sind es diejenigen, die sich noch wehren und lieber an Huris glauben. Die Gäubigen sollen Angst haben vor dem Teufel, weil das dabei hilft, sich ums Kreuz zu scharen und gleichzeitig ihr Kreuz willig auf sich zu nehmen. Das war schon immer so.
Dann macht man Kreuzzüge. Dazu braucht man Armeen. Die macht man aus den Armen (einfach ein 'e' dazu). Die Amerikaner haben das vorbildlich umgesetzt und sorgen ganz besonders dafür, dass die Armen mehr werden (und gleichzeitig glauben, sie lebten unter den besten aller möglichen Umstände). Die Priesterschaft und auch die Mitglieder der Laienkonvente würden nämlich, wie Michael Moore einmal überprüft hat, ihre Söhne nur sehr ungern für Kreuzzüge zur Verfügung stellen.

Fassen wir zusammen:
Wir sind im Grunde genommen total verrückt, aber nicht im eigentlich psychiatrischen Sinne, sondern wir sind fundamentalistisch religiös. Also eigentlich schon völlig plemplem, aber man kann das so wenig psychiatrisch behandeln wie den Islamismus oder den Katholizismus. Dieser Fundamentalismus hat nun, im Unterschied zu allen früheren, zum ersten Mal die Kraft, uns allen, auch den Priestern, die Lebensgrundlage auf diesem Planeten zu entziehen. Und er hat die Kraft, dass sich ein Kabarettist des Themas annehmen muss, weil sonst überhaupt niemand zuhört.

26.02.2011
Doktor

Summa cum fraude.

(Das hab ich abgeschrieben. Ist einfach zu gut.)

15.02.2011
Datensammlung

Wie pflegte man doch zu sagen?: 'Wir geben Geld aus, das wir nicht haben, für Dinge, die wir nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die wir nicht leiden können.'

Ich bin nicht auf Facebook. (Das wäre das Letzte, was ich an Internet-Aktivität ins Auge fassen würde.) Ich twittere auch nicht (- das Vorletzte). Da bin ich irgendwie altmodisch. Aus Argwohn, nicht aus Unkenntnis. Ich traue den Herren Zuckerberg, Schmidt, Ballmer & Co ungefähr so weit wie ich einen Panzer schmeißen kann. Als ich klein war, sagte man uns, 'du sollst nicht mit fremden Männern reden'. Heute kommen die fremden Männer im Internet daher und wollen einfach alles wissen. Sie fahren mit Kameras durch die Straßen, fotografieren die Häuser, sammeln alle Internet-Verbindungen der Menschen und sobald IPv6 kommt, gnade uns Gott. Dann gibt's überhaupt kein Halten mehr. Dann hat mein rechter Schuh eine eigene IP Nummer und der Toaster loggt sich am (Strom)-Netz ein und meldet irgendwohin den Vollzug des Bratens von zwei Scheiben Vollkorntoast.

Schon jetzt ist jeder einzelne Rechner, der sich über einen Browser direkt mit dem www verbindet, in aller Regel eindeutig identifizierbar. Die Browser senden bereits vorab so viel Information an den Server, dass die Zuordnung zu einer individuellen Maschine kein Problem mehr ist. Derweil sammelt Google alle Anfragen und ordnet sie zu, weil die Leute ihre Google cookies nicht wegmachen. Javascripts spähen die Browser History aus und wissen dann, wo dieser Rechner in den letzten x Tagen überall unterwegs war. Auf jeder zweiten Website sind unsichtbare Tracker, die fleißig Verbindungsdaten sammeln, und so gut wie jede Applikation telefoniert unter der Hand nach Hause ("phone home", wie seinerzeit E.T.) und meldet irgendwas dorthin. Die meisten dieser Aktivitäten kann man abstellen, aber ich schätze mal, dass nicht allzu viele Benutzer sich überhaupt dafür interessieren, was da alles stattfindet.

Ich denke ja, dass das Internet ein seltener Glücksfall für die Geheimdienste ist - Wikileaks hin oder her. Spart ein paar hunderttausend Agentenstellen, weil die Leute die Sachen gleich selber in die Social Networks oder in die Foren schreiben. User generated content: Da muss man erst mal drauf kommen.
Früher brauchte man noch ein bißchen technisches Knowhow um eine Website zu machen, auf der man dann was schreiben konnte. Und während man über irgendwelchen html- oder css-Problemen brütete, verging einem die Spontaneität, mit der man heutzutage die Bilder von der 'Nacht-neulich-inne-Disko-und-danach-ging-dat-aber-dermaßen-ab-bei-Kevin-und-Chantal' hochlädt. Loser generated content.

Eines Tages wird man mich vielleicht schief ansehen, weil ich in keinem Social Network bin, sondern Wert darauf lege, alle meine Freunde noch persönlich zu kennen. Einer von ihnen sagte mir neulich, er wisse immer sofort, dass ich ihn anzurufen versucht habe, und zwar nicht, weil er meine Telefonnummer sieht, sondern weil er sie nicht sieht. (Wir haben den Kampf um unsere Privatsphäre schon längst verloren.) Andersherum gehen meine Patienten manchmal nicht ans Telefon, weil meine Rufnummer aus Gründen der Schweigepflicht nicht angezeigt wird. Soll ich jetzt die Schweigepflicht oder die Erreichbarkeit der Patienten knicken?

Ach ja: Handy hab ich übrigens auch keins. Den Luxus gönn' ich mir.

19.12.2010
Rundfunkgebühren

Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten waren es wohl leid, sich Gedanken über 'neuartige Empfangsgeräte' zu machen. Die neue Gebührenregelung zieht nun ganz einfach sämtliche Haushalte heran. Man hätte es auch gleich so machen können, dass alles zahlt, was Rundfunk- und Fernseh-Empfangsorgane, also Augen und Ohren hat.

18.12.2010
'Wutbürger'

lautet das Wort des Jahres. Wer hat's erfunden? Der Spiegel natürlich. Und der Gesellschaft für deutsche Sprache hat's gefallen. Versteht sich. Die haben ja auch an der Schreibweise 'Missstand' nichts auszusetzen.
Wenn also Bürger anfangen aufzuwachen, sich zu informieren und einzumischen, weil man bei den Politikern immer deutlicher die Fäden sieht, an denen sie gezogen werden, dann reduziert der Spiegel das kurz und bündig auf einen Affektzustand.

07.12.2010
Traufe

Am Anfang waren die Psychotherapieschulen. Es wurde (und wird) unterschieden zwischen Psychoanalyse, tiefenpsychologisch fundierter PT, und Verhaltenstherapie, etc. (Das ist nicht besonders gut, hat aber den Vorteil, dass die PT nicht in Analogie zur Organmedizin, sondern psychologisch konzipiert ist.)

Neuerdings bahnt sich eine andere Spaltung an: Psychiatrische vs. Psychologische PT. Die PT-Ausbildung innerhalb der Weiterbildung zum FA Psychiatrie/Psychotherapie und FA Psychosomatik findet zum größten Teil in den psychiatrischen Kliniken und außerhalb der PT-Ausbildungsinstitute statt. Das befördert diese Spaltung.

Wir kommen also vom Regen in die Traufe. Traufe ist schlimmer.

Ich habe ein bißchen in den Abstracts zum DGPPN-Kongress (24.-27.11. 2010) herumgestöbert, immerhin der größte europäische Kongress zu Psychiatrie und Psychotherapie.

Da meint Prof. Mathias Berger, eine Speerspitze der biologischen Psychiatrie, in einem Beitrag zur 'Psychotherapie zwischen Wissenschaft und Heilkunst':

Die Psychotherapie spielt in der Behandlung psychischer Erkrankungen eine zunehmend große Rolle. Diese Entwicklung wurde vor allen Dingen durch die Erarbeitung von störungsspezifischen Psychotherapien jenseits der großen Psychotherapieschulen ausgelöst. Beispiele wären die Interpersonelle Psychotherapie für akute Depressionen, CBASP für chronische Depressionen, Dialektisch-Behaviorale Therapie für Borderline-Störungen oder die Alkoholspezifische Psychotherapie. Die Erarbeitung entsprechender Verfahren einschließlich manualisierter Anwendungen beruht auf den Prinzipien der Evidenzbasierten Medizin, d.h. die Entwicklung von Psychotherapieverfahren entspricht den 4 Stadien der schrittweisen Einführung eines Psychopharmakons.

Das hat schon einen enormen Gruselfaktor. Vielleicht sollten wir Psychotherapeuten bei Gelegenheit auch mal Vorträge über Neurochirurgie halten.

27.10.2010
Denglisch

Aber die Türken sollen deutsch lernen.

01.10.2010
Wasserwerfer

In Baden-Württemberg herrschen Rech und Ordnung. Das war schon so, als unsere Innenminister noch anders geheißen haben. Demokratie ist, glaubt Rech, dass man gewählt wird und dann machen darf was man will. Er versteht also nicht, wie irgend jemand die Beschlüsse, die auf diesem demokratischen Weg zustande gekommen sind, noch hinterfragen kann.

Deshalb wird nun wieder mit rech-staatlichen Mitteln gegen Demonstranten vorgegangen. Diesmal handelt es sich nicht um Studenten, sondern um Schüler und Bürger, die teilweise sogar aus den Elendsvierteln am Killesberg und der Zeppelinstraße herabsteigen, mit Pflastersteinen wild um sich werfen, wahrscheinlich Massenvernichtungswaffen in den Taschen haben und deshalb mit Pfefferspray und Wasserwerfern behandelt werden müssen. Ja, man hat sie aufbewahrt, die Wasserwerfer von damals. Wir Schwaben schmeißen nix weg; man braucht's ja vielleicht nochmal.

Unsere Landesfarben sind schwarz-gelb und wir haben deshalb der Einfachheit halber auch fast immer so gewählt. Die Landesregierungen haben uns nicht beim Schaffen gestört, das war die Hauptsache.

Jetzt aber, auf einmal, kenne ich den Namen unseres Innenministers. Das bedeutet nichts Gutes. Ich habe ihn mir gemerkt, weil ich dauernd Flashbacks habe. Bilder von friedlichen Jubelpersern, die sich in Berlin mit nagelbewehrten Zaunlatten gegen mordlustige Anti-Schah-Demonstranten verteidigen müssen. Dann die Notstandsgesetze. Pershing-Raketen. Wyhl. Verblüffend ist dabei, dass sich die bornierte Arroganz der Verteidigung gewalttätiger Polizeieinsätze seit Kiesinger nicht im geringsten geändert hat. Das war das größte Flashback von allen.

Im März sind Landtagswahlen. Zeit für die Rechsaufsicht. Landesfarben hin oder her.

28.09.2010
Depression

Gestern wurde bei Beckmann in der ARD das Thema Depression behandelt. Die Psychotherapie wurde 'vertreten' durch den Medizinalkomiker Dr. Eckart von Hirschhausen.

28.08.2010
Stuttgart

Es gibt Orte, die an Bahnstrecken liegen und durch die man deshalb durchfährt. Dann gibt es Orte, die nicht an der Strecke liegen, sondern wo die Strecke sozusagen hinführt. In diese Städte fährt man hinein und wieder hinaus. Sie haben dementsprechend einen Kopfbahnhof. Nun will sich meine Heimatstadt durch ein gewaltiges Bauprojekt namens Stuttgart21 zu einem Ort degradieren, in den man nicht mehr hinein- sondern durchfährt.

Das soll etliche Milliarden kosten, die wir nicht haben; ein Teil unseres Bahnhofs und des Schloßparks wird abgerissen; wir werden mindestens zehn Jahre lang mit Baustellenprovisorien ("Schutt-gart" titelte die heute-show) leben müssen, damit wir schneller vom Pariser an den Münchner und den Budapester Kopfbahnhof kommen. Und wir werden am Ende die Rechnung bezahlen. Die Stadt wird vielleicht das eine oder andere Theater schließen, in den Schulen Eimer gegen das Regenwasser aufstellen, um acht die Bürgersteige hochklappen und so dafür sorgen, dass die Leute nur noch durchfahren wollen.
Dann passt das wieder.

(26.09.10): Ich hab inzwischen auch schon eine Idee für Stuttgart31:
Wir legen den Fernsehturm um, beerdigen ihn und machen einen Durchgangsturm draus.

03.08.2010
Natur

Um 6:41 soll die Sonne aufgehen. Der Mann blickt nach Osten und wartet mit der Uhr in der Hand. "Mach' doch vorwärts!" sagt er. "Es ist ja schon 6:40." Um 6:41 geht die Sonne auf. "Aber gerade noch!" sagt der Mann.

Was uns Sorgen macht, sind weniger die schlimmen Ereignisse als die schlimmen Vorstellungen. Wir trauen dem Lauf der Dinge, von uns unbeeinflusst, nicht mehr.

Wenn jemand schwanger war, sagte man: "Sie ist guter Hoffnung."
Heute ist Schwangerschaft zunehmend ein Problem, ein Zustand schlimmer Befürchtung, die dann durch allerhand diagnostische und präventive Maßnahmen gebannt werden soll.

Überhaupt behandeln wir die Natur wie etwas, das in Nationalparks geschützt werden muss, während es also außerhalb solcher Reservate unseren Einflüssen schutzlos ausgeliefert ist. Wir glauben, wir könnten die Natur zerstören, machen Listen gefährdeter Arten und veranstalten Protestmärsche gegen eine neue Landebahn, weil dort die Blaugetüpfelte Spinatwachtel biotopt.

Wir vertrauen der Natur nicht mehr, denn unsere Sorge um sie verstellt den Blick dafür, dass sie es ist, die für uns sorgt und wir durch unsere Eingriffe hauptsächlich uns selbst zerstören, nicht sie.

Stattdessen vertrauen wir den Finanzmärkten.

Wenn ein Hedgefond ein Fluss wäre, dann wäre er seit langem begradigt und mit Schleusen reguliert, an deren Seiten kleine Lachstreppchen unserer mitfühlenden Naturbeherrschung den letzten Schliff geben.

Eines Tages wird die Natur wieder ohne uns auskommen. Andererseits ist kaum anzunehmen, dass es Hedgefonds ohne uns gibt. Das ist tröstlich.

27.07.2010
Kunsthandwerk

Industrielle und kunsthandwerkliche Produktion unterscheiden sich grundlegend. Wenn die Nachfrage nach einem Industrieprodukt steigt, wird mehr davon produziert. Steigt die Nachfrage nach einem kunsthandwerklichen Produkt, erhöht sich der Preis.

Wir versuchen, alles industriell zu produzieren. Von akzeptabler Qualität, hauptsächlich aber preiswert. Damit es sich alle leisten können.

Weil die Hersteller über das Preis-Leistungsverhältnis in einen Wettbewerb treten, werden die Industriegüter oft immer billiger und es gibt einen Innovationswettlauf, der zum Kauf des jeweils neuesten Modells anreizen soll. Auf diese Weise werden sie von Gebrauchs- zu Verbrauchsgütern. Es lohnt sich nicht, sie zu reparieren. Man wirft sie weg.

So entsteht auch der Druck an den Arbeitsplätzen und die Rationalisierungen und Kürzungen, die tendenziell dazu führen, dass viele Arbeitnehmer arbeitslos oder krank werden und sich sogar die preiswerten Industrieprodukte nicht mehr leisten können. Es muss also noch billiger werden; das erhöht den Druck. Und so weiter.

Unglaubliche Mengen wertvollen Materials und völlig funktionsfähiger Geräte werden jedes Jahr 'verbraucht', d.h. weggeworfen. Bei Computern etwa wird das Ersetzen der Geräte zum Zwang, weil die Software schon nach ein paar Jahren nicht mehr unterstützt wird. (Computer sind überhaupt viel zu billig.) Andere Produkte werden absichtlich so hergestellt, dass sie nur eine geringe Lebensdauer haben ('planned obsolescence').

Die 'Verbraucher', also die, die es nachher wegwerfen sollen, werden aufgefordert, das beste Preis-Leistungsverhältnis zu realisieren und nach 'Schnäppchen' Ausschau zu halten. Dadurch wird die Spirale in Gang gehalten. Jemand, der für ein Produkt mehr zahlt als unbedingt nötig, wird für bescheuert erklärt. Also gibt es im Supermarkt Violinen für 15 Euro, inklusive Bogen und Koffer. Denn auch vor vielen traditionell kunsthandwerklichen Erzeugnissen macht das industrielle Paradigma nicht halt. Auch nicht vor dem Gesundheitswesen. Auch nicht vor den Lebensmitteln. Künstliche Hüften für alle und Tomaten im Januar. Cui bono?

Der Mindest-Qualitätsstandard ist, dass man davon nicht krank wird oder stirbt. Deshalb wird so viel Aufhebens um die Qualitätssicherung gemacht. (Selbst die Psychotherapeutenkammer kümmert sich neuerdings wieder intensiv um den Patientenschutz, also um das Minimale, das eigentlich völlig selbstverständlich sein sollte.)

Ich glaube, es täte uns gut, wieder mal etwas zu haben, worauf man sparen und sich freuen kann. Etwas, was sehr lange hält, von exquisiter Qualität ist und sich eine Reparatur lohnt, falls es doch mal kaputtgeht. Und ich glaube auch, dass es gut tut, solche schönen Sachen herzustellen.

31.05.2010
FDP

Die Freie Demagogische Partei ist gegen eine Finanztransaktionssteuer. Gestern meinte ihr Wirtschaftsminister Brüderle bei Anne Will, dass eine solche Steuer sowieso nur weltweit (also gar nicht) gehe, weil der Finanzplatz Deutschland sonst geschädigt werde und dass sie vor allem auch die täglichen Überweisungen der kleinen Leute belaste.

Nachdem man ihm den Schwachsinn einigermaßen um die Ohren gehauen hatte, fing er damit einfach wieder von vorn an. Es war eine eindrucksvolle Demonstration politischer Rhetorik und Loyalität. Ich kann mir die entsprechenden Parteisitzungen vorstellen, bei denen man ausknobelt, mit welchen Argumenten man den Bürgern seinen Schrott verkauft und ihnen gleichzeitig einredet, man habe nur ihr Wohl im Auge - genau so machen es die FinanzDienstPiraten ja auch.

15.05.2010
Euro

Man hat dem Euro den Krieg erklärt, weil man Gewinne durch seinen Untergang erwartet. John Taylor, Chef des Hedgefonds F/X Concepts, ist zuversichtlich und schreibt:

One of the incidents that I remember from my youth was the first time I saw a chicken slaughtered and running around headless for quite a few minutes before it keeled over and died. The euro is at that stage. Its life is finished, but it will be around for some time before it becomes a subject of historical analysis.

Josef Ackermann wird bei einer abendlichen Talkshow des ZDF wie ein Staatsoberhaupt als einziger Gast empfangen, findet eigentlich alles OK, wehrt staatliche Eingriffe ab und sucht talentierte junge Menschen für gut dotierte Positionen im Finanzterrorismus.

In irgendeiner anderen Fernsehsendung merkt einer dieser notorischen 'Experten' journalistischer oder volkswirtschaftlicher Provenienz an, dass ganz natürlich alles angegriffen werde, was nicht entsprechend wehrhaft und deshalb selber schuld sei. Das ist nicht mal dem Wieheißterdochgleich zu Polen eingefallen.

Aber Deutschland wird immer noch am Hindukusch verteidigt.

03.04.2010
Bibel

In der amerikanischen Abteilung habe ich vor kurzem darüber berichtet, dass die neokonservativ-evangelikale Bewegung in den USA eine neue Bibelübersetzung plant, weil die bisher gebräuchliche zu liberal sei.
Nun schickte mir Bernhard Lassahn, ein Freund aus alten Tübinger Tagen, einen seiner Artikel, dem ich zu meinem Entsetzen entnehme, dass Ähnliches auch bei uns begangen wird. Nur sind es hier nicht die Fundamentalisten, sondern die Feministen.

Das Projekt heißt 'Bibel in gerechter Sprache'.

Da liest man dann 'Makkabäerinnen und Makkabäer', 'Adonaj' für Gott (den Herrn), 'Tora' für die Bücher Mose und dergleichen mehr. Politisch korrekt halt. Was Adonai und Tora angeht, könnte man gleich alles auf hebräisch lassen, dann wär's ganz exakt. Und was die Makkabäerinnen betrifft:

Liebe Deutsche und Deutschinnen, vor allem aber, liebe Feministinnen und Feministen: Es gibt einen Unterschied zwischen Genus und Sexus, den man vielleicht noch mal erklären muss. Also, das geht so: Sexus ist das biologische Geschlecht, Männlein oder Weiblein, XY oder XX (jedenfalls meistens). Und Genus ist das grammatische Geschlecht. Das, was die Sprache einem Substantiv als 'männliche' oder 'weibliche' Form zuordnet. Das Mädchen ist biologisch weiblich und sprachlich ein Neutrum. Die Sonne ist im Deutschen vom 'weiblichen' Genus, auf französisch (le soleil) aber vom 'männlichen'. Man sieht also schon, dass Sexus und Genus nicht immer übereinstimmen. Alle Substantive haben ein Genus, aber nicht alle bezeichneten Gegenstände haben ein biologisches Geschlecht. Das Genus steht sprachlogisch eine Stufe über dem Sexus; es gehört zum Bezeichnenden (der Sprache) und nicht zum Bezeichneten (den Gegenständen).

Für die vom Einzelfall abstrahierenden Klassenbezeichnungen und Gattungsbegriffe hat nun die deutsche Sprache, genau wie für Gegenstände ohne biologisches Geschlecht, bestimmte Genera vorgesehen: In dem Ausdruck "das Volk der Etrusker" ist 'Etrusker' als ein solches Abstraktum, eine Klasse, gemeint und hat deshalb in diesem Falle das 'männliche' Genus, unabhängig davon, ob es innerhalb der Klasse auch biologisch weibliche Individuen gibt. Bei "der Flug der Gänse" ist es genau umgekehrt.

Kurz und gut, bei den 'Makkabäerinnen und Makkabäern' wird nicht nur der Unterschied zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem verwischt, sondern auch der im Deutschen vorgesehene Klassenbegriff 'Makkabäer' durch eine Zwangsanpassung des Genus an den Sexus außer Kraft gesetzt.

Man könnte auch sagen: die Bibel in gerechter Sprache ist nicht auf deutsch. Auch dann nicht, wenn der hier verübte sprachliche Unfug inzwischen so weit verbreitet ist, dass man den Sprachmassakern nicht mehr entgehen kann ("Die Ärztin/der Arzt untersucht ihre/seine PatientInnen").
Abgesehen davon ist das Adjektiv 'gerecht' auf die grammatische Struktur einer Sprache so wenig anwendbar wie auf die Form einer Kaffeemaschine.

Derjenige, der die Bibel auf "Deudsch" übersetzte und damit zum Mitschöpfer der deutschen Sprache überhaupt wurde, schrieb auch: "Das Wort sie sollen lassen stahn." Aber gut, Sprachen müssen sich entwickeln und die Gerechtsprachler möchten da auch gerne mitmachen. Warten wir einfach ab, wie's danach weitergeht. Vielleicht so: "Dem Bibel. Krass korrekt, isch schwörs, Alda."

12.03.2010
Berichte

Gestern veröffentlichte das US-Außenministerium seinen 34. Jahresbericht zur Lage der Menschenrechte in 194 Ländern der restlichen Welt.

Wir warten jetzt auf einen Bericht des Vatikan zum Missbrauch von Kindern in 194 nicht-katholischen Institutionen.

18.02.2010
Treatment

Seit dieser Woche läuft bei 3Sat die amerikanische Serie In Treatment: Ein Psychotherapeut und ein Patient, der am Anfang reinkommt und nach 25 Minuten bis zum nächsten Termin wieder rausgeht. In dem Psychoanalyse-Kammerspiel fragt man die Patienten nicht nach ihren Beschwerden, macht keine Untersuchung und keine Anamnese, sondern beginnt unverzüglich damit, den Deutungs-, Beziehungs- und Widerstandssumpf anzulegen, durch den man dann zu waten hat.

Im zugehörigen Blog des ZDF majuskelt eine enthusiastische Zuschauerin:

16.02.10 9:32
WUNDERBAR, EINFACH WUNDERBAR! BIN SELBST THERAPEUTIN UND SCHAUE WENIG FERN; SCHON GAR NICHT SOLCH EIN GENRE. AUSSNAHME: inTreatment. SEHR NAH DRAN, SEHR SCHÖNE MUSIC, KLASSE SCHAUSPIELER. MAN KANN WIRKLICH SAGEN; GENAUSO, WIRKLICH GENAUSO LÄUFT DAS AB.

Ich hab's befürchtet und hoffe noch ein bisschen, dass es nicht wahr ist.

13.02.2010
Zuhören

Gestern titelte die Ärztezeitung: "Sprechende Medizin braucht neue Anreizsysteme. Mehr Geld fürs Zuhören - die KV Bayerns und die Siemens Betriebskrankenkasse arbeiten daran."

Die Psychotherapie ist natürlich nicht gemeint.

Nötig sei, so [ein SBK Vorstandsmitglied], ein Paradigmenwechsel. 'Die einfache Lösung, mehr Geld für das Zuhören zu investieren, wird nicht gelingen, ohne die Paradigmen im Kopf aufzulösen, den Praxisalltag umzustellen und neue Bewertungs- und Qualitätsbegriffe einzuführen.' Dazu seien einige Voraussetzungen erforderlich. Zum Beispiel müsste die ärztliche Praxis um besonders kommunikativ ausgebildete, beratende Medizinberufe wie Ernährungs- oder Präventionsberater erweitert werden.

Die Blumen sind gegossen, Solitaire ist so fade, keiner da zum Schwätzen, na dann brüten wir halt irgendwas aus, Paradigmenwechsel meinetwegen, hatten wir schon drei Monate nicht mehr, man wird doch die paar Stunden bis Feierabend noch herumbringen.

24.01.2010
Katechismus

• Wir glauben, dass es OK ist, aus Geld Geld zu machen (Zins und - vor allem - Zinseszins), m.a.W. Geld als Produkt und nicht als Tauschmittel zu betrachten.

• Immer weniger Menschen produzieren immer mehr Güter. Es muss also noch mehr produziert und abgesetzt werden, damit Arbeitsplätze erhalten oder geschaffen werden. Wir glauben an die Unendlichkeit des Wachstums.

• Weil die Leute wenig verdienen, müssen die Güter billig sein. Weil die Güter billig sein müssen, verdienen die Leute wenig. Wir glauben nicht, dass das seltsam ist.

• Wir glauben, dass die Grundlage des Einkommens ein Arbeitsplatz sein muss, auch wenn Leute inzwischen Jobs haben, von denen sie nicht leben können. Wir sollen bis 67 arbeiten, kriegen aber ab 40 keinen Job mehr.

• Wir exportieren billige, hochsubventionierte Nahrungsmittel in Entwicklungsländer und ruinieren deren eigene Landwirtschaft. Dafür nehmen wir ihnen ihre Bodenschätze und natürlichen Ressourcen ab. Wir glauben, dass die Entwicklungsländer Nahrungsmittel brauchen und mit ihren Ressourcen eh nichts anfangen können.

• Wir halten eine kurzfristige Rendite von 20% für einen unschlagbaren Deal und interessieren uns nicht mehr für Zahlen, die älter als ein Quartal sind.

• Wir glauben, dass shareholder value eine heilige Kuh ist, die uns jederzeit in die Suppe scheißen darf.

• Es gibt einen Zusammenhang zwischen irreführender Auszeichnung von Lebensmitteln und Investment Banking. Die dahinterstehende Haltung ist eine Art Kriegserklärung der Marodeure gegen die Bevölkerung, die dann auch noch selber schuld ist, weil sie das Kleingedruckte nicht gelesen hat.

• Irgendwie glauben wir daran, dass die Staatsschulden weggehen werden, ohne dass unser Erspartes mit weggeht.

• Irgendwie glauben wir auch daran, dass wir nicht wirklich abgezockt werden.

16.12.2009
Glücks-BIP

Herr Professor Ulrich van Suntum vom Centrum für angewandte Wirtschaftsforschung der Uni Münster hat das "erste deutsche Glücks-Bruttoinlandsprodukt" ermittelt und schreibt in einer Zusammenfassung:

Überraschenderweise geht eine größere Ungleichheit [der] Einkommen tendenziell mit einer steigenden Lebenszufriedenheit der Menschen einher. Eine mögliche Erklärung liegt darin, dass die Nivellierung von Einkommen nicht nur für die Wohlhabenden nachteilig ist, sondern auch die Anreize und Aufstiegschancen künftiger Leistungsträger reduziert. Wenn alle das gleiche verdienen würden, wären wir also keineswegs besonders glücklich dabei. Möglicherweise sind wir bei der Belastung der Leistungswilligen mit Steuern und Sozialabgaben bereits zu weit gegangen, und Neid macht eben nicht wirklich glücklich.

'Überraschenderweise' wurde die Studie im Auftrag der neoliberalen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft erstellt. Man braucht dafür ein Institut, in dessen Namen die Wendung "angewandte Forschung" vorkommt und ich bedaure an dieser Stelle, dass das Teeren und Federn bei uns nie so recht Fuß gefasst hat.

12.12.2009
Klimawandel

"There is no Planet B" stand auf Schildern von Demonstranten beim Weltklimagipfel in Kopenhagen. Ein paar amerikanische Republikaner haben aber jetzt herausgefunden, dass die Erderwärmung nichts mit CO2-Emissionen zu tun hat, sondern damit, dass die Sonne so warm scheint.

Da hätte ich einen Vorschlag: Wir könnten doch als Gegenmaßnahme einfach wieder ein bisschen mehr Dreck in die Stratosphäre blasen, damit die Sonneneinstrahlung weniger wird. Ein Klimarettungsschirm, sozusagen.

21.10.2009
Obfuskation

Der englische Begriff 'obfuscation' bedeutet Verdunkelung bzw. Verschleierung und wird neuerdings auch im Deutschen verwendet. Im Programmierjargon ist Obfuskation die Verschleierung von Inhalten durch die Form, indem beispielsweise völlig irrelevante Routinen eingebaut werden, Variablen mit zufallsgenerierten Namen bezeichnet oder die formale Gliederung des Programms, also Absätze und Einrückungen, entfernt werden ('Spaghetti-Code'). Die Orientierung im Code wird dadurch extrem erschwert und es wird eine Komplexität vorgetäuscht, die de facto nicht besteht.

Auch bei der Abzocke ist Obfuskation inzwischen regelmäßig anzutreffen: Das 'Kleingedruckte' wird künstlich derart aufgebläht und verkompliziert, dass es so gut wie unverständlich ist und die wichtigen Informationen darin versteckt werden können.

Wie komm' ich da jetzt drauf? Ach ja, die KV hat mit uns abgerechnet.
Drei Monate verspätet kam vor ein paar Tagen die Abrechnung für das erste Quartal 2009. "Das Problem ist", wie das Anschreiben versichert, "die Komplexität der Honorierung des Jahres 2009".

Man hat nämlich - wegen der Verlustbegrenzung infolge der neuen Gesundheitsreform, bei der, hartnäckigen Gerüchten zufolge, mehr Geld ins System kam, nur nicht bei uns - einen sogenannten 'Konvergenz-Rettungsschirm' aufgezogen.

Rettungsschirme kennen wir ja inzwischen. Da werden über den Palästen die Dächer der Hütten aufgespannt. Schauen wir mal, wie dieser funktioniert:

Ich kriege also €1437,95 abgezogen, weil ich 1/2009 mehr Kassenpatienten neu aufgenommen oder in der Nachsorge betreut habe als im Vergleichsquartal des Vorjahres. Auf meine Nachfrage bei der KV wird mir sehr freundlich erklärt, dass der umgekehrte Fall (ich bekomme eine Gutschrift, etwa weil ich weniger Patienten neu aufgenommen habe) für uns Psychotherapeuten nicht wirklich vorgesehen ist! Ich erkundige mich, nur mal so, nach den Radiologen: Doch, doch, bei denen wäre das schon etwas anderes.

Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind nicht dafür bekannt, dass sie sich in nennenswerter Weise um Transparenz bemühen. Beispielsweise weigern sie sich hartnäckig, selbst ihren Mitgliedern die tatsächlichen Einkommen der verschiedenen Arztgruppen zu offenbaren. Vielleicht wegen des Betriebsfriedens.

Ich bin aber jetzt gerade in keiner besonders friedlichen Stimmung. Ein wenig Auskunft gibt dankenswerterweise das Statistische Bundesamt für den Zeitraum 2003-2007:

Die Einnahmen der Arztpraxen (ohne Medizinische Versorgungszentren) waren im Jahr 2007 mit 399 000 Euro je Praxis um 12,7% höher als in 2003. Der überwiegende Teil der Einnahmen (71%) resultierte aus der kassenärztlichen Tätigkeit. Die Einnahmen aus privatärztlicher und sonstiger ärztlicher Tätigkeit sind im Zeitraum 2003/2007 um 28 000 Euro (rd. 32%) auf 116 000 Euro gestiegen.

Die Einnahmen je Arztpraxis sind zum einen abhängig von der Facharztrichtung und liegen zwischen 296 000 Euro bei den Allgemeinmedizinern oder Praktischen Ärzten und 2,1 Mill. Euro bei den Praxen für Radiologie und Nuklearmedizin. Sie sind zum anderen auch davon abhängig, ob die Praxis im früheren Bundesgebiet (425 000 Euro) oder in den neuen Ländern und Berlin-Ost (286 000 Euro) liegt.

Die Aufwendungen je Arztpraxis sind im gleichen Zeitraum nur um rd. 5,1% auf 206 000 Euro gestiegen. Darüber lässt sich ein Reinertrag je Praxis in Höhe von 193 000 Euro (+17,7% gegenüber 2003) errechnen. Je Praxisinhaber liegt der Reinertrag mit 142 000 Euro um 12,7% über dem von 2003.

Es folgen Tabellen, in denen für 2007 zum ersten Mal auch die Psychotherapeuten aufgeführt sind (nur die psychologischen zwar, aber für die fachärztlichen gilt das auch). Zum Vergleich erst noch einmal der Durchschnitt der Arztpraxen allgemein und der Radiologen im Besonderen:

Arztpraxen (ohne MVZ, in Euro)
Einnahmen 399.000
davon Kassenleistungen 71%
Aufwendungen 206.000
Reinertrag 193.000
Praxen für Radiologie und Nuklearmedizin
Einnahmen (je Praxis) 2.106.000
davon Kassenleistungen 59%
Aufwendungen (je Praxis) 1.367.000
Reinertrag (je Praxisinhaber) 267.000
Praxen von psychologischen
Psychotherapeuten
Einnahmen 85.000
davon Kassenleistungen 82%
Aufwendungen 28.000
Reinertrag 57.000

Und wir Psychotherapeuten subventionieren also jetzt die Radiologen und andere Großverdiener!



04.11.2009

In einem Rundschreiben merkt der bvvp Südbaden an:

Es kann nicht sein, dass die KVBW ihre Finanzierungsprobleme für den Schutzschirm auf Kosten der Psychotherapeuten, die am unteren Ende der Einkommensskala rangieren, lösen will und wir damit weitaus besser verdienende Arztgruppen stützen sollen. Mehr als 3 Mio Euro sind auf diese Weise von den Psychotherapeutenhonoraren abgezogen worden.
[...]
Bei dem Honorarzuwachs der anderen Arztgruppen von 2007 auf 2008 um satte 8% hat keiner einen Rettungsschirm für die Psychotherapeuten für nötig gehalten, die wir gegenüber dem Vorjahr ein Minus von 3% hinzunehmen hatten. Jetzt im ersten Quartal 1/2009, bei der die Ärzteschaft lediglich gegenüber 1/2008 ein Nullwachstum zu verzeichnen hatte, werden wir Psychotherapeuten aber dazu herangezogen, Ungleichgewichte bei der Honorarverteilung in den übrigen Arztgruppen zu lindern.

Es ist dieselbe neoliberale 'Solidarität', in der die Steuerzahler solidarisch dafür geradestehen, dass die Bankster machen können, was sie wollen. So geht das in den ehrenwerten Gesellschaften.


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